Die Inschriften des Edfu-Tempels

In Oberägypten, etwa hundert Kilometer südlich von Luxor, liegt am westlichen Nilufer die Stadt Edfu. Bekannt ist Edfu durch den großen, dem falkengestaltigen Himmelsgott Horus geweihten Tempel aus der Ptolemäerzeit (etwa 300 bis 30 v. Chr.). Er zählt zu den eindrucksvollsten Sakralbauten Ägyptens und gilt als der besterhaltene Tempel der antiken Welt.

Am 23. August des Jahres 237 v. Chr. wurde mit dem Bau des Tempels begonnen. Nach einer Bauzeit von 180 Jahren waren am 5. Dezember 57 v. Chr. die Arbeiten am Tempel mit der Fertigstellung der Dekoration abgeschlossen.

Die Inschriften des Tempels von Edfu zählen nach Umfang und Inhalt zu den wichtigsten Quellen aus der Zeit der Ptolemäerherrschaft in Ägypten. Sie geben eine überaus reiche Vielfalt von Informationen, am meisten zur Religion, die aber auch die politische Geschichte, die Verwaltung und vieles andere mehr betreffen. Da die Inschriften auch Gedankengut weiter geben, das bis in die ältesten Zeiten pharaonischer Geschichte reicht, werden die Edfu-Texte häufig zum Verständnis älterer Quellen herangezogen. Die Vorstellungswelt des pharaonischen Ägypten kann ohne die Berücksichtigung dieses Inschriftenmaterials kaum erhellt werden. 

Insgesamt stellen die Edfu-Texte ein Sammelwerk des religiös bestimmten Weltwissens der alten Ägypter dar.

 

Die wissenschaftliche Arbeit an den Texten und der Dekoration des Tempels von Edfu begann, nachdem der französische Ägyptologe Auguste Mariette (1821-1881) den Tempel von Schutt und Sand befreien ließ (bis 1867). Bald nach dieser Freilegung wurden einige größere Texteinheiten veröffentlicht. Eine Folge der ungünstigen Arbeitsbedingungen jener Zeit (wie z. B. fehlendes Licht im Inneren, Verschmutzungen durch Fledermauskot und Insektennester, schlechte Unterkunft sowie fehlende technische Hilfsmittel) ist die hohe Fehlerquote bzw. Ungenauigkeit der Inschriftenkopien der frühen Ägyptologen.          

Die Inschriften des Edfu-Tempels

Die Textbasis: 3000 Seiten an Hieroglyphen

Erst der französische Ägyptologe Émile Chassinat (1868 bis 1948) schuf die Grundlage für die Erforschung der Tempelinschriften. Innerhalb von vier Jahrzehnten kopierte er die Inschriften und Darstellungen des Tempels. Seine Gesamtpublikation umfasst 14 Bände, davon 8 Textbände mit etwa 3.000 Seiten hieroglyphischer Texte in Drucktypen, 2 Bände mit Strichzeichnungen sowie 4 Bände mit teilweise exzellenten Photographien.

Zwischen 1984 und 1990 wurde ein 15. Band mit Texten und Darstellungen, deren Aufnahme vergessen worden war, und die beiden ersten Textbände in einer revidierten Auflage von den französischen Ägyptologen Silvie Cauville und Didier Devauchelle herausgegeben.

Diese grundlegenden Arbeiten ermöglichen eine wissenschaftliche Bearbeitung der Inschriften. Bis etwa 1970 waren jedoch lediglich etwa 10-15 % der Edfu-Texte in unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlicher Qualität bearbeitet worden.

Die Gründung des Edfu-Projektes

Die schon seit Jahrzehnten in Publikation vorliegenden Edfu-Texte hatten bislang keine ihrer Bedeutung entsprechende Bearbeitung erfahren. Aufgrund der riesigen Textmenge können die meisten sprachlichen und inhaltlich-sachlichen Probleme gelöst werden, indem das Material auf vergleichbare Fälle geprüft wird.

Im Jahr 1986 begründete Professor Dieter Kurth von der Universität Hamburg ein Langzeitprojekt, das sich der philologischen (lexikographisch-grammatikalischen) Gesamtbearbeitung der Inschriften des Tempels von Edfu widmet.

Anstoß zur Projektgründung war die bittere Erfahrung, dass Parallelen zu Textstellen und Inhalten in dem riesigen Textmaterial nahezu verloren sind, will man nicht wegen jedes einzelnen Problems erneut die 3.000 publizierten hieroglyphischen Seiten durchsehen. Damit muss praktisch jeder Forscher für seine Fragestellung mit der Durcharbeitung der Texte von vorne beginnen, will er über die in den bisherigen Untersuchungen gesammelten Informationen hinausgelangen.

Zielsetzung des Edfu-Projektes

Das Ziel des Edfu-Projektes ist, eine in sich geschlossene, verlässliche Gesamtübersetzung aller Inschriften des Tempels von Edfu anzufertigen. Hinzugezogen werden alle greifbaren, in den Schriften enthaltenen Parallelen sowie die erfasste Sekundärliteratur und die Dekorationssystematik. Im Rahmen des Projekts werden ausserdem ausführliche analytische Verzeichnisse zu verschiedenen Sachbereichen erstellt - die auch Vertretern von Nachbarfächern einen raschen Zugriff auf das reiche Textmaterial ermöglichen - sowie eine Grammatik der Tempelinschriften der griechisch-römischen Zeit.

Bis zum Ende des Jahres 2001 ist das Edfu-Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und betreut worden. Seit Anfang 2002 gehört das Projekt zum Akademienprogramm und wird von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreut. Die Arbeitsstelle selbst ist nach wie vor an der Universität Hamburg beheimatet.

Überprüfung der Originaltexte und bisherige Ergebnisse

Anhand der bis heute gesammelten Photographien zeigt sich, dass die Veröffentlichung Chassinats weitaus mehr Fehler enthielt als erwartet. Darunter waren auch viele, die eine Übersetzung und ein vernünftiges Textverständnis unmöglich machten. Was Chassinat ohne größeren Aufwand an technischen Hilfsmitteln geleistet hat, ist bewundernswert. Seine Textwiedergabe übertrifft diejenige all seine Vorgänger bei weitem. Die gleichwohl recht hohe Fehlerzahl machte aber einen erneuten Vergleich der Publikationen mit den Originalinschriften am Edfu-Tempel notwendig, um eine verlässliche Textgrundlage zu erhalten.

Die Übersetzung der Inschriften des Pylonen (Toranlage) wurde mit Umschrift und Kommentar 1998 veröffentlicht (Edfou VIII). Inschriften der Außenseite der Umfassungsmauer (Edfou VII), darunter etliche von Chassinat während seiner Aufnahme vergessene und somit unveröffentlichte Texte, wurden 2004 publiziert. Außerdem sind alle Inschriften der inneren Umfassungsmauer sowie diejenigen des Hofes und der Säulen des Hofes (Chassinat, Edfou V-VI) in Vorübersetzung abgeschlossen.

Während acht Forschungsaufenthalten am Edfu-Tempel (1995 bis 2011) wurden die Abschriften der Bände Edfou IV-VIII ganz oder teilweise mit den Originalinschriften abgeglichen.

Insbesondere an den höher gelegenen sowie an den beschädigten Stellen der Mauer waren zahlreiche Zeichen und Textteile der Publikation von Chassinat zu korrigieren und zu ergänzen. Der erste Übersetzungsband (Edfou VIII) enthält 40 Seiten, der zweite (Edfou VII) 48 Seiten hieroglyphische Korrekturen zu Chassinat. Ein Band mit neu erstellten Strichzeichnungen, die Chassinat ursprünglich vorgesehen hatte, aber nicht mehr veröffentlichen konnte, wurde 2009 veröffentlicht. Eine zweibändige Grammatik der Tempelinschriften der griechisch-römischen Zeit, der das Schriftsystem und die Phonetik behandelt sowie eine umfangreiche Zeichenliste enthält, liegt inzwischen ebenfalls vor.

Darstellungen von Ritualen

Der Tempel ist zu großen Teilen mit Ritualszenen dekoriert, in denen König und Gottheiten einander gegenübertreten. Diese passen sich inhaltlich wie formal verschiedenen Inhalten an, wobei Gabe oder Handlung des Königs mit einem bestimmten Anliegen einhergehen. Die nebenstehende Szene trägt den Titel: „Das Sistrum erglänzen lassen.“ Als Kultgerät verwendete der Priester ein Sistrum (Handrassel).

Der König spricht (A): „Dein Sistrum für dich, du Mächtige mit der großen Flamme, Leuchtende, das (Sistrum, welches) dir deine Wut vertreibt.“

Das vom König genannte Handlungsziel, die Besänftigung der zornigen Göttin (Hathor), wird in der königlichen Randzeile näher ausgeführt (B): „... öPtol. IX.Ä ..., er ergreift das Naos-Sistrum, packt das Bügel-Sistrum und vertreibt den Ärger vom Auge-des-Re (Hathor). Er ist wie der Musikant der Goldenen, ..., der für seine Mutter nach ihrem Belieben musiziert.“

Die göttliche Randzeile schildert dann den Erfolg des Rituals (C): „Behedetit (die von Edfu) ist erschienen in Behedet (Edfu) ..., sie bezwingt den (eigenen) Zorn, wird wieder heiter und besänftigt die Wut, die von Ihrer Majestät ausgeht. Sie ist die Herrin-der-Freude, sobald sie das Sistrum erblickt hat, die Prächtige, die das Musizieren liebt.“