Die Enzyklopädie des Märchens (Verlag Walter de Gruyter) ist ein Nachschlagewerk, das die Ergebnisse von fast zwei Jahrhunderten internationaler Forschungsarbeit im Bereich volkstümlicher Erzähltraditionen in Vergangenheit und Gegenwart umfassend darstellt.

Erschienen sind 14 Bände zu je 720 Seiten (Aarne - Zypern sowie die Nachtragsartikel Ābī - Zombie) und ein Registerband. Die Stichwortliste verzeichnet rund 3900 alphabetisch angeordnete Artikel folgender Art:

  • Darstellungen von Theorien und Methoden, Gattungsfragen, Stil- und Strukturproblemen, Fragen der Biologie des Erzählguts
  • Kurzmonographien über wichtige Erzähltypen und -motive
  • Biographien von Forschern, Sammlern und Autoren bedeutender Quellenwerke
  • Nationale und regionale Forschungsberichte

Vorläufer der Enzyklopädie des Märchens war das von Lutz Mackensen herausgegebene Handwörterbuch des deutschen Märchens (1930-1940). Eine Fortsetzung im Rahmen dieser national begrenzten, auch thematisch engeren Konzeption schien nicht sinnvoll; Erzählforschung kann heute nur in weltweiten Zusammenhängen betrieben werden. Die neue Planung erforderte den Aufbau eines umfangreichen Archivs von Texten, die Auswertung von Quellen und Sammlungen aus aller Welt und die Aufarbeitung der erreichbaren Sekundärliteratur. Aus zunächst bescheidenen Anfängen in den späten 50er Jahren entstand die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von der Stiftung Volkswagenwerk getragene Arbeitsstelle der EM in Göttingen; hier befindet sich auch der Sitz der Redaktion. Seit 1980 ist die EM ein Unternehmen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Die seit 1958 erscheinende Zeitschrift Fabula, der 1959 in Kiel und Kopenhagen abgehaltene internationale Erzählforscherkongreß, die im Jahr danach erfolgte Gründung der International Society for Folk Narrative Research und seitdem turnusmäßig alle 4-5 Jahre abgehaltene internationale Kongresse halfen, Kontakte mit Forschern und Interessenten in allen Kontinenten zu knüpfen und viele kompetente Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen. Bei den Artikeln der EM arbeiteten ca. 800 Autoren aus ca. 60 Ländern mit.

Der Titel Enzyklopädie des Märchens soll keine gattungsmäßige Eingrenzung im Sinne neuerer Definitionen bedeuten. Es geht in diesem Werk um alle Kategorien, welche die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm seinerzeit in den Kinder- und Hausmärchenunter ihrem weitgefaßten Begriff zusammengenommen haben, also auch Tiergeschichten, Fabeln, Legenden, Ätiologien, Sagen, Novellenstoffe, Schwänke, Kettenmärchen etc.; dies entspricht der Katalogisierung im internationalen Typenverzeichnis (AaTh und ATU).

Ziel der EM ist es, die reichen Sammelbestände mündlich und schriftlich überlieferten Erzählguts aus den verschiedensten Ethnien zu vergleichen und ihre sozialen, historischen, psychischen und religiösen Hintergründe aufzuzeigen. Das Werk erfaßt schwerpunktmäßig die oralen und literalen Erzählformen Europas und der europäisch beeinflußten Kulturen wie auch die des mediterranen und asiatischen Raums. Das Erzählgut der bis vor kurzem schriftlosen Völker ist in den zuständigen regionalen Forschungsberichten berücksichtigt. Darüber hinaus werden die Vermittlungswege von Stoffen und Motiven anhand literarischer Quellen wie Exempel-, Legenden-, Predigt-, Historien- und Volksbücher und der mit der mündlichen Überlieferung in Zusammenhang stehenden Dichtung verfolgt und damit die beständigen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Volksüberlieferung deutlich gemacht.

Auf diese Weise liefert die EM eine Fülle von Informationen für Interessenten aus verschiedensten Forschungsbereichen, u. a. Philologen und Literaturwissenschaftler, Ethnologen, Religionswissenschaftler, Psychologen, Pädagogen, Kunsthistoriker, Medienforscher. Die EM berichtet über den jeweiligen Forschungsstand, macht auf Forschungsdesiderate aufmerksam und regt zu neuen Untersuchungen an. Das Team der Autoren, Herausgeber und Redaktoren ist bemüht, übersichtliche, allgemeinverständliche Artikel vorzulegen, die auch einen großen Kreis interessierter Laien ansprechen können.