Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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(Bad) Wilsnack

(Bad) Wilsnack

(1, 2) Die heutige Kleinstadt (Bad) W. gehörte ursprünglich zu einem östlich von Havel und Elbe gelegenen Besitzkomplex der Bischöfe bzw. des Domkapitels von Havelberg. Das Gebiet erstreckte sich als schmaler Streifen von Havelberg über Nitzow und Legde bis nach Hinzdorf und Garsedow kurz vor Wittenberge. 1319 erfuhr dieses Territorium eine bedeutende Erweiterung in nordöstliche Richtung durch die Plattenburg, die Bischof Reiner von Dequede dem letzten askanischen Markgrafen Woldemar abkaufte. Andere Teile dieser ursprünglichen terra Nitzow waren an den Adel verlehnt, insbesondere (nachweislich seit 1384) an die Familie Quitzow. In W. besaß der Bischof von Havelberg einen Prälatenhaus genannten Hof, der ab 1552 mit ganz W. in den Besitz der Familie Saldern kam. In Folge einer Erbteilung entstand 1752 eine W.er Linie der Familie Saldern, so dass für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts W. als Residenzstadt gelten kann. Die Linie bestand bis 1945. Allgemeine Bekanntheit erlangte W. durch die Wallfahrt zum Heiligen Blut, die 1383/84–1552 bestand.

Die Ursprünge der zunächst wohl dörflichen Siedlung liegen weitgehend im Verborgenen, da W. erst ungewöhnlich spät (1383) in den Quellen genannt wird. Ein vor wenigen Jahren an einem im Kirchturm wiederverwendeten Holz dendrochronologisch ermitteltes Datum von 1244 verweist allerdings auf die Zeit des Städteausbaus in der Prignitz. Das in der Regel noch dem ausgehenden 12. Jahrhundert entstammende Nikolaipatrozinium deutet darauf hin, dass vielleicht auch in W. eine Marktsiedlung entstehen sollte. Der Grundriss mit einem einfachen Straßenmarkt zeigt jedoch, dass die Stadtentwicklung in einer frühen Phase stehenblieb. Die wirtschaftliche Entwicklung W.s wurde neben der Landwirtschaft maßgeblich vom Wallfahrtsbetrieb bestimmt. In einer Privilegienbestätigung 1513 wird der Ort als Flecken bezeichnet. 1730 hatte W. 707, 1750 954 Einwohner.

(3, 4) Ein wesentlicher Umschwung trat ein, als 1383 nach einer Brandschatzung des Ortes drei unversehrte Hostien gefunden wurden, die angeblich rote Flecken zeigten. In der Folge entwickelte sich eine rasant anwachsende Wallfahrt zum Heiligen Blut, so dass W. zu einem europaweit bekannten Pilgerziel wurde. Unmittelbar nach Auffindung dieses Wunderblutes wurde eine erste Wallfahrtskirche errichtet, deren Turm noch innerhalb der heutigen Kirche sichtbar ist. Die Bischöfe von Havelberg erwarben 1387 von der Familie Möllendorf das uneingeschränkte Eigentum an dem Ort zurück und ließen die Kirche 1395 dem bfl.en Tafelgut inkorporieren. Um 1450 folgte die Errichtung einer zweiten (nicht vollendeten) Wallfahrtskirche aus Backstein, deren Bauformen sich u. a. am Stendaler Dom orientierten. Zeitgleich wurde am nördlichen Querschiff der sogenannte Schwibbogen angebaut, der eine unmittelbare Verbindung zum Prälatenhaus herstellte. Dieses Haus hat mit Sicherheit den Bf.en in ihrer Doppelfunktion als Stadtherren und geistlichen Oberhirten zur Verfügung gestanden. Aus archäologischen Untersuchungen ist bekannt, dass dieses sog. Prälatenhaus etwa die Hälfte der Grundfläche des barocken Schlosses eingenommen hat. Der Schwibbogen ermöglichte über die beiden Emporen, die durch einen heute nicht mehr vorhandenen Lettner verbunden waren, einen unmittelbaren Zugang zur Wunderblutkapelle. Die Bezeichnung des Areals nördlich der Kirche als Wedeme oder Wedenhof, aus dem später der Gutshof hervorgegangen ist, deutet auf den ursprünglich kirchlichen Besitz.

Nachdem der letzte katholische Bischof von Havelberg, Busso von Alvensleben, 1548 verstorben war, wurde die Wallfahrt weiterhin durch den altgläubigen Domdechanten Peter Conradi gedeckt. 1552 vernichtete der erste evangelische Prediger in W. (Joachim Ellefeld) die Reste der Wunderbluthostien, womit der Wallfahrtsbetrieb ein abruptes Ende fand. Für die Stadt bedeutete dies den Verlust wesentlicher Einnahmequellen, die zu einem großen Teil aus Gast- und Herbergsgewerbe herrührten. Symptomatisch erscheint daher eine Stiftung des Havelberger Domdechanten Matthäus Ludecus von 1585, welche zwölf Arme unterstützte.

Parallel mit der Aufhebung der Wallfahrt wurde die einst bischöfliche Herrschaft Plattenburg (einschließlich W.s) seitens des Brandenburger Kurfürsten Joachim II. seinem Kämmerer Matthias von Saldern (1509–1575) überlassen, 1552 zunächst pfandweise, 1555 auf Lebenszeit und 1560 schließlich zu erblichem Eigentum verkauft. Diese Familie verfügte bis 1945 über einen der größten Besitzkomplexe in der Prignitz. In der Folgezeit führte der wirtschaftliche Abstieg der Stadt sowie die konsequente Gutsherrschaft der Familie Saldern zu regelmäßigen Konflikten. Über die Visitationsabschiede hinaus waren deshalb eine ganze Reihe von Verträgen notwendig (1582, 1585, 1587, 1596, 1604), um die verschiedenen Streitpunkte zu regeln. Wesentliche Problemfelder waren das Patronatsrecht (insbesondere das Besetzungsrecht für die mit dem Inspektorat verknüpfte erste Pfarrstelle), die kirchliche Baulast, die Nutzung städtischen Grund und Bodens sowie die Gerichtsbarkeit.

Wegen ihrer Größe war die Plattenburg gegenüber dem ehemaligen W.er Prälatenhaus die wichtigere Residenz. Da die Plattenburg jedoch nur über eine Burgkapelle verfügte, W. hingegen eine enorm große Kirche vorzuweisen hatte, manifestierte sich das Patronatsrecht in erster Linie in W. In den nachfolgenden Jahrhunderten eigneten sich die Saldern auf vielfältige Weise den Kirchenraum an: Die über den »Schwibbogen« erreichbare Empore verdeutlichte den Stand der Herrschaft; der Hohe Chor und sogar die einstige Wunderblutkapelle wurde über viele Generationen hinweg demonstrativ als Begräbnisstätte benutzt. Hinzu kamen wesentliche Inventarstücke, die von ihnen gestiftet wurden, die Kanzel (um 1695), zwei Glocken (1613, 1774) und die Orgel (1782). Große, hölzerne Epitaphien links und rechts der Orgel dominieren noch heute die Westwand der Kirche. Die schwierige wirtschaftliche Lage nach dem Dreißigjährigen Krieg begünstigte aber fortwährende Streitigkeiten zwischen dem Rat, der Gutsherrschaft und den Kirchendienern, die sich einer Disziplinierung hartnäckig verweigerten. Zudem gab es Eingriffe in das Kirchenvermögen. Die kirchlichen Gebäude waren bis in das 18. Jahrhundert hinein einem permanenten Verfall ausgesetzt.

Ein neues, zweigeschossiges Gutshaus wurde 1724 durch den Braunschweiger Baumeister Johann Müller errichtet. Eine gesteigerte Bedeutung erlangte das W.er Schloss, als noch zu Lebzeiten des kinderlosen Johann Friedrich von Saldern 1752 eine Erbteilung vorgenommen wurde und die Söhne seiner Brüder die Begründer einer Plattenburger und einer W.er Linie wurden. Abgesehen von einer klassizistischen Modernisierung blieb das Schloss in seiner barocken Gestalt bis zur Bodenreform 1946 erhalten (1976 brannte es ab und wurde bis auf den Keller abgetragen). Ein Wirtschaftshof von beträchtlicher Größe schloss sich in nördlicher Richtung an. Das Areal ist z. T. noch heute durch eine Mauer von der Stadt abgegrenzt.

(5, 6) Im 15. Jahrhundert hat das durch die Wallfahrt international bedeutsame W. mehrfach als Ort von Fürstentreffen gedient. Die Funktion der Wallfahrtskirche als bischöfliche (Neben-)Residenz – eigentliche Residenz der Havelberger Bischöfe war Wittstock – zeigte sich unter anderem in der Stiftung kostbarer Glasmalereien durch König Christian I. von Dänemark und Norwegen sowie die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen. Herrschaftlich vereinnahmt wurde W. durch die Nutzung des Kirchenraums durch die Familie Saldern ab etwa dem frühen 17. Jahrhundert; der brandenburgische Kämmerer Matthias von Saldern (1509–1575) wurde in Plaue bei Brandenburg beigesetzt, dessen Nachkommen in W. Residenzstadt im engen Sinn wurde W. durch die Entstehung einer eigenen W.er Linie der Herren von Saldern 1752, die das 1724 in W. erbaute Schloss nutzte.

(7) Da das Stadtarchiv in den 1970er oder 1980er Jahren vorsätzlich vernichtet worden ist, sind die archivalischen Quellen im außerordentlich umfangreichen Archiv der Familie Saldern (deponiert im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam) und im Pfarrarchiv Bad Wilsnack (seit 2000 deponiert im Domstiftsarchiv Brandenburg) zu suchen.

Riedel, Adolph Friedrich: Die Stadt Wilsnack, in: Codex diplomaticus Brandenburgensis, Bd. A II (1842), S. 121–184. – Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Bd. 1: Die Prignitz, hg. von Victor Herold, Berlin 1931 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 4), S. 611–639. – Herrmann, Ines: Findbuch des Pfarrarchivs Bad Wilsnack, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz 3 (2003) S. 108–155. – Heegewaldt/Harnisch, Herrschafts-, Guts- und Familienarchive (2010), S. 208–217 und S. 322–323.

(8) Die Kunstdenkmäler des Kreises Westprignitz, bearb. von Paul Eichholz, Friedrich Solger und Willy Spatz, Berlin 1909 (Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, I/1), S. 305–338. – Cors, August: Chronik der Stadt Bad Wilsnack, Berlin 1930. – Peters, Jan: 600 Jahre Bad Wilsnack von den Anfängen bis 1700, Bad Wilsnack 1983. – Handbuch der Historischen Stätten, Bd. 10: Berlin und Brandenburg (31995), S. 391–393. – Historisches Ortslexikon Brandenburg I (21997), S. 959–966. – Städtebuch Brandenburg und Berlin (2000), S. 18–22. – Peters, Jan: Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack. Prignitz 1500–1800, Berlin 2007 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 53). – Saldern, Friedrich-Christoph von: Das Schloß Wilsnack, Beuster/München 2011 [Selbstverlag]. – Sigl, Daniela: Bad Wilsnack. Die Grüfte der Familie von Saldern in der Wunderblutkirche, in: Brandenburgische Denkmalpflege 22,1 (2013) S. 52–62. – Czubatynski, Uwe: Bibliographie zur Kirchengeschichte in Berlin-Brandenburg, Bd. 2, Nordhausen 2014, S. 34–46.

Uwe Czubatynski