Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich

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Gänge (Umgänge)

Gänge sind im architekton. Zusammenhang ihrem Typus nach Bewegungs- und Richtungsräume. Sie dienen in der Regel der horizontalen Kommunikation, seltener – wie Auf- und Abgänge (Treppen, Rampen) – der vertikalen Verbindung und Erschließung verschiedener Ebenen. Ihrem Erscheinungsbild nach sind sie schmal, aber langgestreckt, geschlossen (Korridore), halboffen (Lauben- und Arkadengänge) oder offen (Dachumgänge und Wehrgänge). Sie erleichtern die störungsfreie Passage (Durchgang) unter Umgehung der ihnen zugeordneten Räume, führen jedoch zu deren Ein- und Ausgang, bezeichnen im übrigen die kürzeste Wegstrecke zw. zwei entfernten Stationen im Raumorganismus eines Gebäudes und sind daher nicht eigentl. Orte längeren Aufenthaltes. Letzterer Umstand unterscheidet sie inhaltl. und funktional grundsätzl. von den ebenfalls tendentiell langgestreckten Galerien, die als eigenständiger Raumtypus seit ihrer Entstehung im 14. Jh. dem Verweilen, der kontemplativen Betrachtung, Erbauung und der Konversation vor Kunstwerken und Sammlungsgegenständen sowie dem Schauen auf die durch Fenster sichtbare unmittelbare Umgebung des Raumes, den Hof oder den Garten, den Vorzug gaben.

1200-1450

Vor der Mitte des 15. Jh.s pflegen Gänge im Burgen- und Schloßbau von untergeordneter Bedeutung zu sein. Neben ihrem utilitären Zweck als Verbindungs- oder Erschließungseinrichtungen, nicht selten in der Mauerstärke verborgen oder als von Konsolen getragener, vorgekragter Wehrgang am Dachansatz, wird ihnen nur selten architekton. Aufmerksamkeit in dem Maße zuteil, daß sie in nennenswerter Weise als charakterist. oder gar künstler. ausgestaltete Räume hervortreten. Ausnahmen finden sich frühzeitig v. a. im Pfalzenbau, wo die vorrangig repräsentative Aufgaben erfüllenden Palase oder Saalgeschoßhäuser seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s von engen Bogenstellungen gesäumte Erschließungsgänge in Verbindung mit der Treppenführung aufweisen (z. B. Eger und Gelnhausen, Kaiserpfalzen Friedrich Barbarossas; Wartburg, Landgrafenhaus Ludwigs II. von Thüringen, 1157-62). Das aus dem stauf. Sakralbau bekannte Motiv der Zwerggalerie, aber auch die von Laufgängen begleitete Bogenwand des im Kircheninneren seit der Mitte des 12. Jh.s beliebten Triforiums dürften für die architekton. Formgebung der die Gänge auszeichnenden Fassadenelemente anregend gewirkt haben.

1450-1550

Mit der zunehmenden Differenzierung der zeremoniellen Strukturen bei Hofe erscheinen Gänge seit dem mittleren 15. Jh. vermehrt als absichtsvolle Zäsuren im Raumplan, bequeme Erschließungsmittel und nicht zuletzt auch als architekton. Instrument der Herrschaftsinszenierung. In enger Verbindung mit dem Portal und der Treppe gehören Gänge fortan zu den elementaren Bestandteilen der Distribution. Sie umgehen zunächst nur einzelne Räume (Meißen, Albrechtsburg, 1471-90, Verbindung von Hofstube und Kapelle unter Umgehung des Saales), bieten diskreten Zugang in Verbindung mit Rückzugsräumen (Wittenberg, Schloß, 1489-1508, Zugang zur Schlafkammer Friedrichs des Weisen im Südwestturm) oder sind Versorgungsschleusen für die Dienerschaft. Gelegentl. – wie in Meißen oder Wittenberg – wurden ihnen allg. zugängl. Aborte zugeteilt. Im Anschluß an frz. Baugewohnheiten, wie sie dort schon seit der zweiten Hälfte des 14. Jh.s (Louvre Karls V., um 1365-75; Saumur, Schloßneubau für Louis Ier d'Anjou, vor 1384) im Umfeld der Krone und der kgl. Prinzen und seit dem mittleren 15. Jh. (Bourges, Palais de Jacques Coeur, 1443-53) zunehmend auch im niederadeligen Milieu nachweisbar sind, bieten dt. landesherrl. Res.en im SpätMA Vergleichbares.

Freilich erst um 1500 kommt es vereinzelt zu Erschließungsgängen, die – in Anlehnung an ma. Kreuzgänge und Rathauslauben – als offene Arkaden- oder Kolonnadengänge in Erscheinung treten. Sie verlaufen entlang der Hoffassaden von Corps de logis und Flügeln und beschränken sich zumeist auf das Erdgeschoß. Das Celler Schloß scheint hierfür ein frühes Beispiel an die Hand zu geben, gab es dort doch wohl schon zu Ende des 15. Jh.s einen ersten steinernen Gang mit begehbarer Plattform an der Hofseite des repräsentativen Ostflügels, der, zw. 1545 und 1570 erneuert und mit einem umfangr., Alter und Abstammung der Dynastie der Welfen verherrlichenden Bildprogramm ausgestattet, allerdings bereits im 17. Jh. teilw. wieder aufgegeben wurde. Der Ottheinrichsflügel des Schlosses zu Neuburg an der Donau (1537-45) besitzt noch heute ein wenig jüngeres Gegenstück. Auch das Schloß Isenburg in Offenbach am Main (1564-72 für die Gf.en von Isenburg-Büdingen) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Parallelen und Vorstufen finden sich wiederum im frz. Schloßbau (Blois, Flügel Ludwigs XII., ab 1498), aber auch in Italien (Pavia, Castello Visconteo, ab 1360; Urbino, Pal. Ducale des Federico da Montefeltre, ab 1465; Stadtpaläste in Florenz und Rom im 15. Jh.).

1550-1650

Fassadenparallele Korridore, z. T. in den Obergeschossen wiederholt, sind in dt. Res.en eine Erscheinungsform des 16. Jh.s und ein Zeichen frühneuzeitl. Distribution. Die Schlösser Ottweiler (nach 1575 für Gf. Albrecht von Nassau-Saarbrücken, Baumeister: Christmann Stromeyer, 1734 abgebrochen), Calw (1606, unausgeführter Grundrißentwurf von Heinrich Schickhardt) und Aschaffenburg (Schloß Johannisburg, 1607-16 für den Ebf. von Mainz Johann Schweickard von Kronberg, Baumeister: Georg Ridinger) können hier stellvertretend für viele weitere Anlagen stehen. Von der ital. Renaissancearchitektur inspirierte, zum Hof hin in weiten Bogenstellungen geöffnete Arkadengänge, in Norddtl. eher selten und am schönsten am Schloß in Güstrow zu sehen (nach 1558 für Hzg. Ulrich von Mecklenburg, Baumeister: Franz und Christoph Parr), zeigen das Alte Schloß in Stuttgart (1553-78 für Hzg. Christoph von Württemberg, Baumeister: Alberlin Tretsch und Blasius Berwart), die Plassenburg bei Kulmbach (1565-69 für Mgf. Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach) sowie zahlreiche weitere oberdt. und insbes. alpenländ. Res.en der zweiten Hälfte des 16. Jh.s, namentl. in Schlesien (z. B. Brieg, ab 1544 für Hzg. Georg II. von Liegnitz-Brieg-Wohlau aus der Linie der schles. Piasten, 1741 großenteils zerstört und 1966-78 frei rekonstruiert, Baumeister: Jakob Parr), Mähren (Opočno, 1560-69; Moravskį Krumlov, um 1562-70, Arkadengänge Leonardo Gardoni aus Bissena zugeschr.; Bučovice, 1567-87 nach Plänen von Pietro Ferrabosco) und Österreich (Wien, Stallburg, 1559-69 für Ehzg. Maximilian).

Eine Sonderform bilden die von Konsolen getragenen, zumeist offenen Außenlaufgänge, gelegentl. auch – entspr. ihrer Verwendung – als Trompetergänge bezeichnet, die v. a. an mitteldt. Schlössern (Torgau, Schloß Hartenfels, 1533-38 entlang des Neuen Saalflügels für den Kfs.en von Sachsen Johann Friedrich den Großmütigen, Baumeister: Konrad Krebs; Berlin, ehem. Stadtschloß, ab 1538 für den Kfs.en von Brandenburg Joachim II., Baumeister: Caspar Theiß in Verbindung mit Konrad Krebs) auftreten, aber auch im Bereich der sog. Weserrenaissance vorkommen, so in den Schloßhöfen von Detmold (nach 1549 für die Gf. zur Lippe, Baumeister: Jörg Unkair), Lemgo-Brake (nach 1584 für Gf. Simon VI. zur Lippe, Baumeister: Hermann Wulff) und Bückeburg (um 1560 für Gf. Otto IV. von Schaumburg).

Hochgelegene Dachumgänge – in der Tradition von Wehrgängen – sind im Schloßbau des 15. und 16. Jh.s außerordentl. beliebt. Unter vollständigem Verzicht auf fortifikator. Eigenschaften dienen sie dem Schaubedürfnis von höchster Warte und gehören zu den zivilen Belvedereeinrichtungen, denen auch Erker, Loggien (so z. B. in Dresden, Stadtschloß, 1547-56 für Kfs. Moritz von Sachsen), Altane und Balkone zuzurechnen sind. Am kfsl.-sächs. Jagdschloß Augustusburg (1567-1573 für August von Sachsen, Baumeister: Hieronymus Lotter) säumten sie bis zu ihrem Abbruch um 1800 als offene Laufgänge in Höhe des zweiten Obergeschosses ringsum die Innen- und Außenfassaden. Hier befand sich zw. dem nordwestl. und dem nordöstl. Pavillon auch der sog. »Trompeterstuhl«, ein turmartig überhöhter Dachaufbau, der die Hornbläser während der jagdl. Vergnügungen beherbergt haben dürfte, bevor er anläßl. der Purifizierung der silhouettenwirksamen Teile des Schlosses ebenfalls ersatzlos verschwand.

Albrecht, Uwe: Der Renaissancebau des Celler Schlosses. Zur Genese des Zwerchhauses und zum Bildprogramm der Fassaden des 16. Jahrhunderts, Celle 2003 (Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte. Schriftenreihe des StA und des Bomann-Museums, 32). – Handbuch der Renaissance. Deutschland, Niederlande, Belgien, Österreich, hg. von Anne Schunicht-Rawe und Vera Lüpkes, Köln 2002, pass. – Hoppe 1996. – Plonner, Elisabeth: Arkadenhöfe nördlich der Alpen. Die Entwicklungsgeschichte eines Typus der Profanarchitektur, München 1989 (Tuduv-Studien. Reihe Kunstgeschichte, 34).