Im Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands ist eine Rezension von Martin Hille (Passau) zum 2014 erschienenen Band von Hermanne Kinne zum Kollegiatstift St. Petri zu Bautzen erschienen.
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Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Band 62, Heft 1 (2016), S. 350–352. Band 62, Heft 1 (2016), S. 350–352.
Das (exemte) Bistum Meissen. Das Kollegiatstift St. Petri zu Bautzen von der Gründung bis 1569. Im Auftrage der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen bearb. v. Hermann Kinne (Germania Sacra. Die Kirche des Alten Reiches und ihre Institutionen. Dritte Folge. 7: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, 1). Berlin/Boston: De Gruyter Akademie Forschung 2014. ISBN 978-3-11-033223-0. – XII, 1.062 S., 1 Karte;
169,95 Euro.
Besprochen von Martin Hille (Passau), e-mail: martin.hille@uni-passau.de
DOI 10.1515/JGMO-2016-0047
2017 wird sich die Gründung eines der erfolgreichen geschichtswissenschaftlichen Langzeitprojekte zum 100. Mal jähren. Mitten im Ersten Weltkrieg versuchte der Mediävist Paul Fridolin Kehr die Germania Sacra im Rahmen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte als Bindeglied zwischen landeshistorischer Forschung und überregionaler Kirchengeschichte zu etablieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte der Göttinger Mittelalterhistoriker Hermann Heimpel an diese Tradition an. Nach der Umwidmung des Max-Planck-Instituts für Geschichte wurde das Projekt 2008 an der Göttinger Akademie der Wissenschaften angesiedelt mit dem alten wie neuen Ziel, eine historisch-statistische Beschreibung der Einzelinstitutionen der Kirche im Heiligen Römischen Reich vorzulegen. Dazu gehört auch die Erschließung sämtlicher einschlägiger Quellen und Literaturtitel sowie deren Präsentation im standardisierten Handbuchformat. Neben den Bistümern (Bischofsreihen) werden die Domkapitel sowie die Klöster und Kanonikerstifte von der Gründung bis zur Reformation respektive Säkularisation erfasst. Durch die schematisierte Aufbereitung des aktuellen Forschungsstandes sollen einerseits die Voraussetzungen für weitere Spezialstudien geschaffen, andererseits nachhaltige Impulse für die landes- und verfassungshistorische sowie die prosopographische, sozial- und kulturhistorische Forschung gegeben werden.
Im Rahmen der 2008 gestarteten dritten Folge der Germania Sacra für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist auch der 2014 erschienene Band von Herrmann Kinne angesiedelt. Im Zentrum der Studie, hervorgegangen aus einer Leipziger Dissertation von 2012, steht das Kollegiatstift St. Petri zu Bautzen von der Gründungsphase vor und um 1221 bis zum Jahr 1569. Als bedeutendstes Kanonikerstift der Diözese Meißen diente St. Petri seit 1530 als Simultaneum für die lutherische und die altgläubige Richtung, ein Status, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Mit der Wiedererrichtung des Bistums Meißen im Jahr 1921 am Standort Bautzen wurde das Stifts- in den Rang eines Domkapitels erhoben, bis im Jahr 1980 der Umzug nach Dresden erfolgte.
Konzeptionell folgt Kinne dem bewährten Schema der Germania Sacra, indem er an den Anfang eine ausführliche Analyse der Quellenlage setzt. Hervorzuheben ist die gute Urkundenüberlieferung, die für die Zeitspanne von 1221 bis 1569 nahezu komplett ist. Weniger günstig sieht es mit dem Erhalt der urbariellen Zeugnisse aus, doch auch die Aktenbestände setzen in breiterem Umfang erst nach der Mitte des 16. Jahrhunderts ein. Nach einem kurzen Blick auf die Archiv- und Bibliotheksgeschichte liefert Kinne einen kompakten Überblick zur Stiftsgeschichte bis 1569. Recht detailliert werden im anschließenden, knapp 250 Seiten umfassenden vierten Kapitel die Verfassungs- und Verwaltungsstrukturen ausgebreitet, angefangen von der sozialen Rekrutierung und Wahl der Kapitularen über Besitz, Rechte und Einkünfte bis zu den einzelnen Ämtern und Funktionen. Kennzeichnend für das soziale Profil des Stifts bis 1500 war die gemischtständische Zusammensetzung mit einer leichten Dominanz des stadtbürgerlichen Elements – oft Bautzener Bürgersöhne, die auch noch im 16. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten, als sich der Einzugsbereich des Stifts zunehmend nach Süden, in den böhmischen und mährischen Raum, verlagerte.
Ein weiteres Kapitel behandelt das religiöse und geistliche Leben von St. Petri, ehe im sechsten Kapitel die Wirtschaftsgeschichte ins Zentrum rückt. Auf knapp 120 Seiten öffnet Kinne bemerkenswerte Einblicke in die Besitzstruktur und die grundherrschaftliche Verfassung, aber auch die Kreditverflechtungen des Kollegiatstifts. Aufgrund des kanonischen Zinsverbots betätigten sich die Kapitularen verstärkt seit dem 14. Jahrhundert im großen Stil als Rentkäufer. Dass dieses Phänomen wesentlich mit dem Vordringen der Geldwirtschaft in das kirchliche und gesellschaftliche Leben zusammenhing, liegt nahe. Beim Rentkauf verkaufte der Schuldner jährliche Zinsen, Pachteinnahmen oder Gefälle von Grundstücken, Häusern oder sonstigen Gerechtigkeiten gegen eine bestimmte Summe, wobei jederzeit die Möglichkeit des Rückkaufs bestand. Darüber hinaus betrieb das Stift gerade im 15. Jahrhundert eine gezielte Gütererwerbspolitik, die ebenfalls zu steigenden Geld- und Naturalrenten führte. Als Verkäufer trat auffällig oft der umliegende Adel auf, ein deutliches Indiz für die soziale und wirtschaftliche Krise, in der dieser damals nicht nur in diesem Raum steckte.
Die zentrale Bedeutung der Germania Sacra-Reihe für die sozialgeschichtliche und prosopographische Forschung wird sodann aus dem umfassenden Schlusskapitel 7 ersichtlich. Auf nicht weniger als 248 Seiten werden die biographischen Fragmente sämtlicher ermittelbaren Pröpste, Dekane, Kustoden, Scholaster, Kantoren, Cancellare und Kanoniker aufgeführt. Die meisten Aufschlüsse liefern die Aussteller- und Zeugenlisten der Stiftsurkunden, doch auch aus den Bautzener Präsenzrechnungen lassen sich etliche Personen nachweisen. Weitere Informationen enthalten chronikalische Aufzeichnungen, nicht zu vergessen auch die Matrikel- und Promotionslisten der besuchten Universitäten. Dies wiederum erlaubt weitreichende Rückschlüsse auf den Bildungshintergrund der Kapitularen, insbesondere deren zunehmende Akademisierung über das Iter Italicum sowie den Besuch mittel- und westeuropäischer Universitäten.
Vor diesem Hintergrund ist der Wissensertrag des Buches als hoch einzuschätzen. Noch deutlicher wird dies mit Blick auf die aktuell so beliebten Forschungsprojekte im Zeichen des cultural, practical, performative, visual, linguistic oder spatial turn. Oft fallen die Resultate mager und wenig substantiell aus, während der synthetische, von softwaredeutschen und konstruktivistischen Nomenklaturen überfrachtete Fachjargon in erster Linie dazu dient, die Blässe des Gedankens zu verhüllen. Im Fall des Opus magnum von Hermann Kinne liegen die Dinge jedoch anders, sowohl in Hin blick auf die klare Schreibsprache als auch auf die Sorgfalt bei der Wahl der Begriffe. Darüber hinaus erleichtern die vorzügliche Gliederung sowie das ausführliche Register die Lektüre des Bandes, der im Übrigen kaum Druck- und Rechtschreibfehler auf weist. Somit erweist sich dieses Buch als echte Reverenz an jene gute wissenschaftliche Praxis, wie man sie in vielen aktuellen geisteswissenschaftlichen Publikationen leider vermisst.