Goethes Wortschatz

Unter semantischer Individualisierung sei die Aufladung bestimmter Wörter mit inhaltlichen und emotionalen Momenten verstanden, so daß sie eine autorspezifische Wertigkeit erhalten. Es handelt sich dabei um Bedeutungsschöpfung, um innovative Semantik. Aussagen über Art und Grad solcher lexikalisch-semantischen Individualisierung im Bereich des Allgemeinwortschatzes erfordern eigentlich den Vergleich mit dem Epochenwortschatz und mit der Sprache anderer zeitgenössischer Literaten. Manches kann aber schon das Studium der internen Verhältnisse der Autorsprache lehren.

Da ist vor allem der Versuch, die Grundelemente des Goetheschen Erlebens, Fühlens, Denkens und Wirkens in bestimmten Begriffen und letztlich in Wörtern oder Wortgruppen zu erfassen. Zumeist in der Vorbereitungsphase des Goethe-Wörterbuchs ist eine Reihe von Monographien zu solch hochfrequenten Wörtern mit reicher Bedeutungsentfaltung und vielfältigen Übergängen zur Bild- und Symbolwelt des Dichters entstanden, zu Anmut/anmutig, fromm, Gegenwart, Gemüt, genießen/Genuß, gesund, Ruhe/Stille, Tat/tätig/Tätigkeit, zart, zur Formel offenbares Geheimnis u.a.

Die Wortanalysen zielen darauf, über das sprachübliche Bedeutungsspektrum hinaus eigentümliche und möglichst rekurrente Bedeutungsnuancierungen oder Verwendungsweisen zu ermitteln, die als individualtypisch gelten können, wobei einschränkend immer zu bedenken ist, daß die jeweils besondere Menge und Streuung der Wortbelege schon sozusagen zufällig ein einmaliges Gebrauchsprofil ergibt. Fortgesetzt sind die Bemühungen im Goethe-Wörterbuch für den Gesamtwortschatz, ferner in speziellen Werkwörterbüchern (zu ‘Götz’, ‘Werther’ und v.a. ‘Divan’).

Das Individuelle der Sprache Goethes war auch das Thema schon der älteren Forschung, sofern sie nicht anekdotisch Jagd auf „Lieblingsausdrücke“ machte oder Sprachstil und Weltanschauung kurzschloß. Der Entwicklungsaspekt, der zeitliche Verlauf eines Wortgebrauchs, hat in den älteren Arbeiten entschieden mehr Gewicht. Im Prinzip werden zwei Fragerichtungen verfolgt:

a) Welche Wörter werden zu besonderer "Prägnanz" aufgeladen oder semantisch verändert? Ein markantes Beispiel für "individuellen Bedeutungswandel" ist dumpf, das in den ersten Weimarer Jahren, wohl auf gruppenjargonaler Basis, positiv nuanciert auf einen gärenden Bewußtseinszustand bezogen erscheint. Jedoch auch dieser "Wandel" bleibt Episode, wie überhaupt die Vorstellung fehlgeht, das Individuum Goethe könne neue Wortbedeutungen schaffen (in einem lexikologisch und sprachhistorisch relevanten Sinne). Dennoch bleiben die Befunde für die Theorie einer Individualsprache interessant.

b) Die andere Fragerichtung ist für die Erkennung lexikalischer Verstehensbarrieren eher noch wichtiger: Welche Wörter werden dem Etymon angenähert, in "ursprünglicher" oder veralteter Bedeutung verwendet? Solch sprachliche Patinierung resultiert nur z.T. aus der Einwirkung älterer Texte (z.B. Lutherbibel) oder retardierter Varietäten (z.B. Rechts- und Kanzleisprache). Gern werden sinnliche, z.B. räumliche Vorstellungen in einem Wortgebrauch konserviert (z.B. entgegnen ‘entgegenkommen, begegnen’, ereignen/eräugnen ‘vor Augen kommen, sich zeigen’) oder ad hoc reaktiviert (z.B. verwickelt und entwickelt); auch die Metaphorik arbeitet mit solchen Revitalisierungen (z.B. ein bißchen Übel wiederkäuen).

Neben den wortbezogenen Studien stehen solche, die Goethesche Begriffe analysieren, z.B. Bildung, Ganzheit, Hoffnung, Idee, Typus. Für Goethes naturwissenschaftliche Begriffsbildungen interessiert sich die historische Fachsprachenforschung.

Insgesamt sind in der Forschung onomasiologische Strukturen, etwa Wortfeldgliederungen oder antonymische Komplexe, vernachlässigt worden. Offensichtlich aber haben in Goethes Semantik, obwohl er feste Begrifflichkeiten meidet, gerade Komplementär- und Kontrastbegriffe, häufig in einer höheren Synthese aufgehoben, eine wichtige Ordnungsfunktion, vgl. Augenblick/Dauer, Diastole/Systole, Dilettant/Künstler, Einzelnes/Ganzes, Finsternis/Licht, Form/Gehalt, Freiheit/Gesetz, Geist/Natur, genießen/streben, klar/verworren u.a.

Für Untersuchungen zur Synonymik hat man Anhaltspunkte in der Formulierungspraxis des Autors, z.B. in der Ausdrucksvariation im Kontext, auch bei Übersetzung, in pointierten Differenzierungen (z.B. anschauen/ansehen, einsam/allein, Gegner/Widersacher), in Reformulierungen und stilistischen Korrekturen.

Obgleich Goethe Distanz wahrte zu den Sprachdebatten der Zeit, gibt es über sein ganzes Werk verstreut sprachreflexive Äußerungen die Fülle. Eine Worttheorie in nuce bieten die ‘Divan’-Gedichte ‘Offenbar Geheimnis’ und ‘Wink’; im zentralen Satz "Das Wort ist ein Fächer!" wird das zugleich Verhüllende wie Enthüllende des Wortsymbols ausgesagt. Sehr häufig kommentiert er einzelne Wörter, Termini oder Begriffe; z.B. begrüßt er die Charakterisierung seiner Denkweise als gegenständlich.

Für die lexikographische Erschließung einer poetischen Sprachwelt hat er die Bemerkung parat: "Wenn einem Autor ein Lexikon nachkommen kann, so taugt er nichts" (‘Maximen und Reflexionen’).