Goethes Wortschatz

Der Wortschatz in seiner Totalität ist das kumulative Ergebnis einer langen und komplexen Sprachbiographie, und diese wiederum ist eingebettet in den sprachhistorischen Gesamtprozeß. Prägend für die Architektur des Wortschatzes wird v.a. die sukzessive Anlagerung spezialsprachlicher Anteile an das kommunikative Zentrum der Allgemeinsprache.

Reiche Reservoire eröffnen die Fach- und Wissenschaftssprachen. In der Sphäre beruflicher Tätigkeit ist eine enge Anlehnung an rechts- und kanzleisprachliche Traditionen, eine bewußt konventionelle Handhabung der Textsorten, Stilmuster und Fachwörter zu konstatieren. Auf die kurze Advokatenpraxis in Frankfurt folgt das ausgedehnte administrative Wirken im Weimarer Staatsdienst. Zu nennen sind Rechtswesen und Verwaltung, Finanz-, Steuer- und Kriegswesen, Bergbau, Straßen- und Wasserbau, Schloßbau, Theaterleitung, Aufsicht über Fortbildungsanstalten, Universität und Bibliotheken.

Die Wortschätze dieser Tätigkeitsfelder sind jeweils nach Textsortenstilen und kommunikativen Ebenen untergliedert, oftmals auch miteinander verschränkt. Die Adaption handwerklich-technischer oder gruppensprachlicher Spezialausdrücke (z.B. Bergmannssprache, Jenaer Studentenjargon) steht vielfach in Konnex mit Amtsgeschäften.

Anders als die berufsbedingten Sprachformen zeigen die Schriften des Privatgelehrten und Naturforschers deutliche Merkmale einer Individualisierung. Hier konnten sich persönliche Neigungen, Sehweisen und Denkformen auswirken, auch in der Opposition zu herrschenden wissenschaftlichen Modellen. So stellt Goethe gegen Linnés statisch zergliedernde Taxonomie des Pflanzenreichs sein dynamisches Konzept der Metamorphose mit der Idee einer ursprünglichen Identität aller Pflanzenarten (Urpflanze) und aller Teile der Pflanze (Blatt). Anders als Linnés streng objektive Nomenklatur ist Goethes Begrifflichkeit gekennzeichnet durch Synonymenvariation und interpretierende Umschreibungen; die Ausdrücke umspielen einen fluktuierenden Vorstellungsinhalt, ertasten gleichsam die Natur. Darin offenbart sich eine Sprachauffassung, die den Erkenntnisanspruch einer systematischen Terminologie stark relativiert ("Die Natur hat kein System").

Im ganzen dürfte die Breite der naturwissenschaftlichen Interessen - mit Schwerpunkten in der Botanik, vergleichenden Anatomie, Farbenlehre (physikalische Optik u.a.), Geologie, Mineralogie, Meteorologie - und zumal die Intensität der empirischen wie theoretischen Durchdringung beispiellos für einen Dichter sein, was Konsequenzen hat bis in die Wahl der poetischen Vergleiche und Metaphern.

Die Zuwachsrate für den Wortschatz mögen ein paar Zahlen andeuten: Buchstabe A enthält rund 120 deutsche Simplizia, daneben allein 53 Termini für Pflanzen (von Acanthus mollis bis Azalea) und 34 für Gesteine bzw. Minerale (Abrazit bis Axinit). Mit solchen z.T. nur in Listen oder Notizen auffindbaren Benennungen sind allerdings schon periphere Bezirke des Fachwortschatzes erreicht. Die zu Lebzeiten publizierten naturwissenschaftlichen Schriften pflegen i.a. eine moderat terminologisierte, eher bildungssprachliche Diktion.

Ebenfalls auf allgemeinere Verständlichkeit angelegt sind die teils historisch-biographischen, teils kritisch-theoretischen Arbeiten zur Kunst und Literatur älterer und neuerer Zeit. Darin werden, wenn auch Selbstreflexion selten auf das Papier gelangt, die charakteristischen Leitbegriffe für das künstlerische Programm entwickelt bis hin zu der Vision einer Weltliteratur.