"Für die russische Wissenschaft eine Katastrophe"

Akademie

Der Slawist und ehemalige Vizepräsident der Göttinger Akademie, Prof. Werner Lehfeld, hat einen offenen Brief russischer Wissenschaftler übersetzt, den auch 75 Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften unterzeichnet haben.

Werner Lehfeldt, emeritierter Professor der Slavischen Philologie und von 2006 bis 2012 Vizepräsident der Göttinger Akademie, hat einen offenen Brief von russischen Wissenschaftlern und Wissenschaftsjournalisten ins Deutsche übersetzt, in dem der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine heftig verurteilt wird. Rund 400 Wissenschaftler hatten binnen 24 Stunden nach Beginn der Offensive diesen offenen Brief unterzeichnet, der im Internet und in zahlreichen deutschen Medien veröffentlicht worden ist. Zu den ersten Unterzeichnern gehörten 75 Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die 1724 von Peter dem Großen gegründete Akademie mit Hauptsitz in Moskau ist die ranghöchste Wissenschaftsinstitution der Russischen Föderation. Über den Aufruf sprach Adrienne Lochte mit Prof. Werner Lehfeldt. 

Alo: Wie sind Sie an diesen besonderen Brief gekommen?

WL: An dem Tag, an dem die sogenannte „Sonderoperation“ begonnen hatte, schickte mir eine russische Kollegin, die in Berlin lebt, diesen Aufruf. Unter den Unterschriften fand ich zahlreiche Namen mir gut bekannter Kollegen, darunter etwa den des ehemaligen, jetzt pensionierten Direktors des Instituts der russischen Sprache der Akademie. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits 75 Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften den Aufruf unterzeichnet, inzwischen sind es ja insgesamt mehr als 7500 Unterzeichner. Daher bin ich unglücklich darüber, dass die deutschen Wissenschaftsorganisationen jegliche Beziehungen zur russischen Wissenschaft abgebrochen haben, sogar zu einzelnen Personen. Das finde ich nicht richtig. Ich kenne viele Menschen in der russischen Wissenschaft, die auf eine solche Beziehung angewiesen sind, und überlege mir, etwas dagegen zu unternehmen und Kollegen zu bitten, dabei mitzumachen. Im übrigen ist diese Art von Boykott auch schädlich für die deutsche Wissenschaft, ganz besonders natürlich für mein Fachgebiet und auch für mich ganz persönlich.

Alo: Wenn Sie gegen diesen Boykott vorgehen wollen, woran denken Sie da?

WL: Man könnte etwa an den DAAD schreiben.

Alo: Haben Sie gerade Kontakte zu russischen Wissenschaftlern?

WL: Ja, mit den Kolleginnen – es sind tatsächlich alles Damen – aus dem Archiv der Russischen Akademie in St. Petersburg und mit Kollegen in Moskau. Mit den St. Petersburger Kolleginnen verbindet mich eine enge Zusammenarbeit.

Alo. Wie geht es denen?

WL: Ich vermeide Ausdrücke, die diese Kolleginnen in Schwierigkeiten bringen könnten, aber ich habe schon von zwei Bekannten aus Moskau, die diesen Aufruf unterschrieben haben, gehört, dass die Polizei bei ihnen gewesen ist. Es gab also sogenannte „Warnbesuche“. Ich glaube, dass viele Menschen in der Wissenschaft und in der Kunst total verzweifelt über die Katastrophe sind, die dieser Krieg gerade auch für Russland bedeutet. Ich selber muss mit meinen Emotionen kämpfen und kann mir vorstellen, dass es für diese Menschen noch viel schlimmer ist. So schrieb mir eine Kollegin aus Russland: „Wir erröten vor Scham“. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass ich von einer Wissenschaftlerin etwas ganz Anderes zu lesen bekommen habe. Sie beschimpft die Dummheit der westlichen Politiker und ist davon überzeugt, dass Russland aus diesem Konflikt stärker als je hervorgehen werde.

Alo: Aber das war nur eine einzige, oder?

WL: Ja, bisher jedenfalls. Inzwischen gibt es aber auch eine Art Gegenaufruf von Putin-Unterstützern in der Wissenschaft. Ich habe gelesen, dieser Aufruf sei von ca. 400 Wissenschaftlern unterschrieben worden. Übrigens habe ich aus Tobolsk einen Aufruf zugeschickt bekommen, in dem die Unterzeichner des offenen Briefes in übler Weise beschimpft werden: „Pseudointelligenzler“, „Verräter der Heimat“ usw. Man kann sich also vorstellen, was für Spannungen, Konflikte, Verwerfungen es unter den russischen Wissenschaftlern gibt.
Jedenfalls ist der Krieg, ich wiederhole mich, gerade auch für die russische Wissenschaft eine Tragödie, und das haben die Unterzeichner des Briefes auch klargemacht. Sie haben gesagt – und das hätte ich vielleicht in der Übersetzung besser so ausdrücken sollen – „Russland wird zu einem Pariastaat“, abgeschnitten von der Zusammenarbeit mit allen Wissenschaftlern im Ausland. Für die heutige Wissenschaft ist eine solche Kooperation aber von fundamentaler Bedeutung. Wenn das alles wegfällt, ist auch das für Russland eine Katastrophe.