Künstliche Intelligenz kann ein großes Geschenk sein

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In der Reihe AKADEMIE IM GESPRÄCH zum Thema „Helfen Daten heilen? Digitalisierung in der Medizin“ hielten Bettina Schöne-Seifert und Michael P. Manns Kurzvorträge und diskutierten mit dem Publikum.

GÖTTINGEN. „Wir werden Ihre Krankheit heilen können, bevor Sie überhaupt wissen, dass Sie krank sind!“ Akademiepräsident Daniel Göske zitierte diesen Satz nach eigenem Bekunden aus der Times, als er am 26. September 2024 im Alten Rathaus die Veranstaltung „Helfen Daten heilen? Digitalisierung in der Medizin“ eröffnete. Er machte so deutlich, dass auch in Großbritannien die „Zukunft der Medizin“ hoch im Kurs steht. Die Akademie hatte das Thema in ihrer Reihe „Akademie im Gespräch“ aufgegriffen, die sie regelmäßig in Kooperation mit der Stadt Göttingen ausrichtet. Bürgermeisterin Onyeka Oshionwu lobte diese Entscheidung und hob bei ihrer Begrüßung auch eine Tagung zur Künstlichen Intelligenz (KI) lobend hervor, die zeitgleich von der Akademie veranstaltet in Hamburg stattfand.

Eine Expertin und zwei Experten hatte die Akademie für Kurzvorträge gewinnen können: Professor Michael P. Manns, Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Michael Marschollek, Professor für Medizinische Informatik an der MHH, und die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, die bis 2023 an der Universität Münster lehrte. Marschollek musste eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn seine Teilnahme absagen. Er hätte die Medizininformatik-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vorgestellt sowie das Teilprojekt HiGHmed-Verbund, dessen Ko-Koordinator er ist. Mit dieser Initiative will die Bundesregierung den Rückstand bei der Digitalisierung in der Medizin aufholen, denn Fakt ist: Deutschland hinkt bei der Nutzung und dem Austausch gesundheitsbezogener Daten im internationalen Vergleich massiv hinterher.
Manns vermittelte einen Eindruck davon, welche Möglichkeiten die Medizin inzwischen habe. „Das Genom jedes Menschen kann heute innerhalb von Stunden für ein paar hundert Euro analysiert werden.“ Er brachte dazu ein eindrucksvolles Beispiel: Im Nachhinein habe die Untersuchung einer Haarsträhne von Ludwig van Beethoven ergeben, dass er an einer Leberzirrhose gestorben sei, die mehrere Ursachen hatte. „Beethoven hatte vermehrt Alkohol konsumiert, das war bekannt“, sagte Manns, „es wurde aber auch durch molekulare Analyse der Haare eine Hepatitis B Virus Infektion festgestellt, die wie vermehrter Alkoholkonsum zur Leberzirrhose und zum Leberkrebs führen kann. Diese Erkenntnis ist genauso neu wie der Nachweis von Genen, die unabhängig von der Krankheitsursache das Risiko einer fortschreitenden Leberfibrose hin zur Zirrhose (Narbenleber) anzeigen.“  
Der Mediziner ging vor allem auf die Bedeutung der Genetik und der KI bei Infektionskrankheiten und Krebserkrankungen ein. Er verwies auf das Comprehensive Cancer Center Niedersachsen, gegründet von MHH und Universitätsmedizin Göttingen, „ein onkologisches Spitzenzentrum“, das genomische Analysen der Tumore sammele und damit Datensätze schaffe, auf deren Grundlage spezifischere Therapien entwickelt werden können. Als „sensationell“ bezeichnete er den Umstand, dass in der Covid-Pandemie in nur zehn Monaten ein mRNA-Impfstoff entwickelt werden konnte. Darüber hinaus hätten die in der Pandemie massenhaft gesammelten Daten rasch zu neuen Erkenntnissen beigetragen, z. B. dass Menschen mit der Blutgruppe Null gut vor einem schweren Verlauf geschützt sind, während Menschen der Blutgruppe A stärker gefährdet seien.
Die erhoffte Medizin der Zukunft brachte Schöne-Seifert so auf den Punkt: „Vorbeugen, ganz früh erkennen und mit hoher Durchschlagkraft behandeln – diese Ziele sollen wir durch eine datengetriebene Forschung erreichen.“ Die Ethikerin hält auf diesem Weg die Künstliche Intelligenz für „ein großes Geschenk“. Mit Hilfe der KI könnten Algorithmen bei riesigen Datenmengen neue Erkenntnisse bringen.

Voraussetzung dafür ist, dass Patientendaten weitergegeben werden dürfen. Schöne-Seifert hält das für eine „Bürgerpflicht“. Sie meint: „Auch andere Patienten sollen von meinen Daten profitieren.“ Sensible Daten sollten dabei „pseudonymisiert“ werden. Das bedeutet, dass personenbezogene Daten so verschlüsselt werden, dass sie noch ergänzt oder zurückverfolgt werden könnten, was bei einer vollständigen Anonymisierung nicht möglich wäre. Durch eine Rückverfolgung (De-Pseudonymisierung) könnten Patienten etwa gezielt kontaktiert werden, wenn neue relevante Therapien verfügbar sind.  Schöne-Seifert geht davon aus, dass es bei uns daher zu einer „Datenspende mit Widerspruchslösung“ kommen wird.
Bei der folgenden Diskussion kamen aus dem Publikum vor allem Fragen zur Finanzierbarkeit der künftigen Präzisionsmedizin, bei der die Therapien gezielt auf den individuellen Patienten zugeschnitten werden. Manns räumte ein, dass wir uns diesbezüglich „schmerzhafte Fragen“ würden stellen müssen. „In England liegt die Grenze für ein gewonnenes Lebensjahr bei 30.000 Pfund. In Holland wird jenseits von 65 keine Dialyse mehr gemacht. In Deutschland hat noch jeder das Recht auf eine für ihn beste Therapie“, stellte er fest. Schöne-Seifert stimmte ihm im Wesentlichen zu, gab aber auch zu bedenken, dass Fehlbehandlungen geringer und bestimmte Verfahren günstiger würden. Manns hatte dafür ein Beispiel parat: „Computertomographien (CTs) werden in Zukunft von der KI ausgewertet.“ alo