Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Gera

Gera

(1) G., dessen Name bereits im 10. Jahrhundert als Landschaftsbezeichnung auftritt, liegt im Tal der Weißen Elster, in der bis ins hohe Mittelalter weitgehend slawisch besiedelten Grenzregion zwischen der Landgrafschaft Thüringen und der Markgrafschaft Meißen, die lange als Osterland bezeichnet wurde; historisch gesehen gehört sie zum Vogtland. Die provincia G., die möglicherweise bereits eine Siedlung dieses Namens einschloss, übertrug Kaiser Otto III. 999 seiner Schwester Adelheid, Äbtissin des Stifts Quedlinburg. Noch nach ca. 1200 erscheint G. unter der Grund- bzw. Lehnsherrschaft des Stiftes. Die herrschaftlichen Rechte vor Ort nahmen spätestens seit den 1230er Jahren Angehörige der Familie der Vögte von Weida wahr, die sich auch Vögte von G. nannten. Als Folge des vogtländischen Krieges (1354–1357) mussten die Vögte 1358 Burg und Stadt G. den wettinischen Markgrafen von Meißen als Lehen auftragen. Die quedlinburgische Lehnshoheit blieb zwar weiterhin formell bestehen, spielte aber faktisch keine Rolle mehr. Als Folge des Schmalkaldischen Krieges fiel die Herrschaft G. 1547 zunächst an die bggfl.-plauensche und wenig später, nach dem erbenlosen Tod des letzten Herrn von G., an die jüngere Linie Reuß der weit verzweigten Familie der einstigen Vögte. Die Herrschaft G. erstreckte sich Mitte des 16. Jahrhunderts von Kraftsdorf im Westen bis Thränitz im Osten und von Großaga im Norden bis Oberröppisch im Süden und war damit nur wenig größer als das heutige Stadtgebiet G.s. Besondere Bedeutung für Stadt und Herrschaft G. hatte die Regierung des Heinrich Posthumus 1595–1635. Mit der 1604 erfolgten Einrichtung der Kanzlei und des Konsistoriums als zentrale Institutionen für sein gesamtes Territorium, das auch die Herrschaften Lobenstein, Kranichfeld, Saalburg und Schleiz umfasste, wurde G. erstmals politischer Bezugspunkt für ein ausgedehnteres Gebiet. 1605–08 entstand mit dem noch heute bestehenden Gymnasium Rutheneum eine fortschrittliche Landesschule, deren Anziehungskraft weit über die Grenzen der reußischen Territorien hinaus wirkte. 1673 wurde das gesamte Haus Reuß mit allen seinen Linien in den Reichsgrafenstand erhoben. Das jüngere Haus G. bestand bis 1802, die reußische Herrschaft über G. jedoch bis 1918.

G. gehörte zum Bistum Zeitz-Naumburg, Archidiakonat Zeitz, und war seit der Reformation Sitz einer Superintendentur.

(2) Die Vögte und späteren Herren von G. residierten auf dem Schloss Osterstein ca. ein Kilometer nordwestlich der Stadt auf der gegenüberliegenden Seite der Elster. Spuren einer herrschaftlichen Burg an dieser Stelle lassen sich mindestens bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Außerdem gab es in der südwestlichen Ecke der Stadt eine Wehranlage, die seit dem frühen 16. Jahrhundert in den Quellen als »Altes Schloss« begegnet. Deren Alter und Funktion sind bislang ungeklärt. Die Lage eines zu vermutenden Dorfes G. ist nicht gesichert. Die kleine (ca. 300 × 350 m), nur teilweise regelmäßige Stadtanlage mit ihrem annähernd quadratischen Marktplatz und einigen rechtwinklig angeordneten Gassen dürfte auf die Stadterhebung im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts zurückgehen, bezieht aber offenbar ältere Siedlungsbereiche ein. Der westliche Teil der Stadt, der in der frühen Neuzeit von der Pfarrkirche St. Johannis und dem Alten Schloss sowie einer Reihe herrschaftlicher Freihöfe bestimmt wurde, stellt vermutlich einen präurbanen Siedlungskern dar. Kleinere Vorstädte entstanden im späten Mittelalter entlang den Ausfallstraßen, eine kleinräumige, doch planmäßig angelegte »Neustadt« nordwestlich vor der Stadt ab 1731. Die Zahl der Vorstadthäuser wuchs kontinuierlich an und überstieg bald die der Altstadt. Die Stadt besaß fünf ungleichmäßig angeordnete Tore – je zwei nach Norden und Süden, eins nach Westen –, von denen das südwestlich gelegene Klotztor keine Bedeutung für den Durchgangsverkehr hatte. Die wichtigste die Stadt passierende Fernstraße verlief in Richtung Südwest-Nordost. Sie führte vom Mittelgebirgspass bei Hof und vom Rennsteig über Saalfeld nach Altenburg bzw. Leipzig und überquerte hier mit der Weißen Elster die einzige größere topografische Barriere zwischen Saale und Pleiße. Von Bedeutung war auch die Verbindung ins Erzgebirgsvorland (Zwickau, Chemnitz). Mit der Stadtbildung zog Gera außerdem eine zuvor weiter nördlich das Elstertal querende West-Ost-Straße an sich. Dagegen suchten ab dem späten Mittelalter die Wettiner den Handelsverkehr zugunsten ihrer eigenen Straßen vom vögtisch-reußischen Territorium abzuziehen.

Seit dem frühen 13. Jahrhundert ist in G. Münzprägung durch die Vögte nachweisbar. Sie wurde vermutlich im 14. Jahrhundert aufgegeben, nur 1621/22 richtete Heinrich Posthumus noch einmal kurzzeitig eine Münze ein. Die Vögte, die die Gerichtsbarkeit über das Umland innehatten, besaßen ab 1306 auch das Schultheißengericht innerhalb der Stadt. Wann die niedere Gerichtsbarkeit in die Verantwortung des Stadtrates überging, ist unbekannt. Durch Verpfändung hatte er in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorübergehend auch das Hochgericht inne. Die älteste überlieferte Aufzeichnung der Stadtstatuten stammt aus dem Jahr 1487. Sie galten, in einer Überarbeitung von 1658, in wesentlichen Zügen bis ins 19. Jahrhundert Etliche Bestimmungen lassen eine starke Abhängigkeit der Kommune vom Stadtherrn erkennen. So wurde der Herrschaft bei Einkäufen auf dem Markt oder der Bedienung von Schulden ein Vorzugsrecht eingeräumt. Die Satzung selbst und eventuelle Änderungen bedurften der herrschaftlichen Bestätigung, ebenso die gewählten Ratsmitglieder. Das jüngere Stadtrecht von 1658 fixiert zudem, dass herrschaftliche Bedienstete und Inhaber der stadtherrlichen Freigüter Privilegien genossen, die sie dem Zugriff der Kommune entzogen.

Der städtische Rat ist erst Anfang des 15. Jahrhunderts nachweisbar, ein Bürgermeister jedoch schon 1360. Drei (zeitweilig auch nur zwei) Ratsmittel wechselten sich jährlich ab. Im 15. und 16. Jahrhundert waren außerdem die »zwölf von der Gemeinde« und die Viertelsmeister der drei Stadtviertel am Stadtregiment beteiligt. Die Gemeindevertretung wurde jedoch von Seiten des Rates – gegen den Einspruch der Bürgerschaft – Ende des 16. Jahrhunderts abgeschafft und durch vier Gemeinmeister ersetzt.

1532 wurden in der Stadt 235 Hauseigentümer zur Türkensteuer herangezogen (10 Jahre später nur noch 185), in der Vorstadt 39, was auf ungefähr 1200 Einwohner schießen lässt. 1643 zählte man in der Altstadt 230 Haushalte, in den Vorstädten aber schon 297; im Jahr 1700 insgesamt 928 Haushalte, wovon aber 346 Hausgenossen waren, also Mieter (1651 erst 98). Um 1800 hatte G. rund 7000 Einwohner.

Wichtigste Erwerbszweige waren Textilproduktion und -handel. G.er Tuche wurden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf den Messen in Naumburg und Leipzig verkauft. Die herrschaftliche Ökonomie verdiente an diesem Gewerbe unmittelbar mit: Um die Mitte des 16. Jahrhunderts – noch vor dem Boom der niederländischen Zeugmacher – wurden in den beiden Amtsschäfereien bei G. weit über 2000 Schafe gehalten. Die erste Handwerkervereinigung war die 1478 gegründete Tuchmacherinnung. Mit der Niederlassung emigrierter flandrischer Textilhersteller und -händler (v. a. Nikolaus de Smit) gegen Ende des 16. Jahrhunderts, der Einführung neuer Web- und Färbetechniken und des Manufakturwesens, setzte ein Entwicklungsschub ein. 1778 vereinte die Innung der Zeugmacher 309 Meister, hinzu kamen 20 Leinweber und 17 Tuchmacher. Ein weiterer wichtiger Erwerbszweig war die Brauerei. Brau- und schankberechtigt waren die Eigentümer von 221 Häusern in der Stadt. Auf Herstellung und Verkauf von Bier und Wein wurde seit 1551 eine Tranksteuer erhoben und zusätzlich seit Gründung des Gymnasiums durch Heinrich Posthumus der sogenannte Schulgroschen. Die Tranksteuer stellte eine der wichtigsten Einnahmequellen der Stadtherren dar und betrug selbst in der Krisenzeit des Dreißigjährigen Krieges bis zu 3000 Gulden jährlich.

(3) Pfarrkirche war ursprünglich – vermutlich seit vorstädtischer Zeit – die Johanniskirche nahe dem Alten Schloss. Noch in der Reformationszeit umfasste ihr Sprengel außer der Stadt und der Burgsiedlung Untermhaus weitere 12 Dörfer. Das Patronat besaßen die Herren von G. seit 1306. Sie nutzten die Kirche mindestens seit dem 16. Jahrhundert als Familiengrablege (zuvor Kloster Cronschwitz). Eine Kapelle St. Nikolai befand sich in exponierter Lage in der Nordostecke der Stadt, sie besaß aber offenbar keine Pfarrrechte und verfiel in der frühen Neuzeit. An ihrer Stelle erbaute man 1717–1720 die Salvatorkirche. Zunächst nur gelegentlich genutzt, übernahm diese nach dem großen Stadtbrand 1780 die Funktion der zerstörten Johanniskirche als alleinige Stadtpfarrkirche. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde vor dem westlichen Stadttor ein Hospital (das »reine« Spital) gegründet, das wenig später eine Kapelle St. Marien erhielt, und zu unbekannter Zeit das Hospital St. Wolfgang (Sondersiechen), ebenfalls westlich der Stadt. Hierher wurde in der Reformationszeit der Friedhof verlegt und im frühen 17. Jahrhundert die Friedhofskirche St. Trinitatis eingerichtet. An die Stelle des Marienhospitals trat ab 1724 das städtische Zucht- und Waisenhaus. Eine Kapelle St. Marien als Filiale der Pfarrkirche gab es in Untermhaus, sie erhielt 1736 eigene Pfarrrechte. Die Kapelle auf der stadtherrlichen Burg wurde schon 1234 von der örtlichen Pfarrei eximiert. Memorialstiftungen einzelner Bürger erfolgten im ausgehenden Mittelalter, vor allem zugunsten der Hospitäler, in Kooperation mit dem Rat und mit Konsens des Stadtherrn.

Es gab in G. kein Kloster, als Hauskloster der Vögte von G. diente das 1238 gegründete Dominikanerinnenkloster Cronschwitz bei Weida. Termineien in der Stadt besaßen offenbar die Weidaer Franziskaner und die Plauener Dominikaner. In den Reformationsakten werden je eine Bruderschaft St. Jakob und Corpus Christi erwähnt.

Die lutherische Reformation stieß zunächst, vor allem angesichts der Ereignisse des Bauernkrieges, auf den Widerstand der altgläubigen Herren von G. Sowohl der Pfarrklerus als auch die Angehörigen der Ritterschaft als Inhaber der ländlichen Pfarrpatronate wurden offenbar seitens des Herrn von G. unter Druck gesetzt, reformatorische Bestrebungen zu unterbinden. Unter Berufung auf seine Lehnshoheit erzwang der sächsische Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige 1533 eine erste Visitation, der rasch Maßnahmen zur Einführung des evangelischen Gottesdienstes folgten. Infolge der Lehnsabhängigkeit musste Heinrich XV. im Schmalkaldischen Krieg der protestantischen Partei Truppen stellen und verlor nach deren Niederlage 1547 die Herrschaft G. Sie wurde mit Heinrich IV., Burggrafen von Meißen, einem kaisertreuen katholischen Verwandten übertragen, der jedoch die Fortführung der Reformation in diesem Gebiet nicht behinderte, sondern 1552 sogar eine erste evangelische Kirchenordnung erließ. Die burggräfliche Regentschaft währte nur kurz, 1560/62 fiel G. an die Herren Reuß, bei der Teilung 1564 an deren jüngere Linie, die mit der Reußischen Konfession von 1567 eine streng lutherische Ausrichtung für ihr Herrschaftsgebiet festlegte. Dem kalvinistischen Bekenntnis der in den folgenden Jahren einwandernden flandrischen Glaubensflüchtlinge begegnete die einheimische Bevölkerung wie auch der Landesherr selbst ablehnend.

Nachrichten zum jüdischen Leben im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen G. sind sehr spärlich. Um 1502 empfing ein Jude Meyer sein Wohnhaus in der Vorstadt und die »juden schul« als herrschaftliches Lehen.

(4) Von der herrschaftlichen Residenz auf dem Osterstein sind nach schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg und der Abtragung der Ruinen 1962–1964 nur noch der Bergfried aus dem 13. Jahrhundert und Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude im Vorburgbereich erhalten. Die umfangreiche Schlossanlage wurde bis 1945 als Wohnsitz der fsl.en Familie genutzt, ihr Erscheinungsbild war zum Zeitpunkt ihrer Zerstörung von einer Vielzahl von Baumaßnahmen des 13.–20. Jahrhunderts geprägt. Archäologische Befunde, Größe und Gestalt des Bergfriedes und nicht zuletzt die überaus günstige Lage machen es wahrscheinlich, dass hier (entgegen älterer Auffassung) auch die ab dem 13. Jahrhundert häufig genannte Burg G. zu suchen ist. Ob das Alte Schloss in der Stadt hingegen jemals als Residenz der Stadtherren diente, ist fraglich. Es war anscheinend als Wasserburg angelegt, doch in die Stadtbefestigung integriert. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert diente es als Gefängnis. Seine letzten baulichen Überreste wurden im 19. Jahrhundert beseitigt. Von der Stadtmauer sind nur wenige Reste erhalten, ihr Alter ist ungewiss. Bei der für das Jahr 1450 überlieferten schweren Belagerung der Stadt im Sächsischen Bruderkrieg dürfte G. bereits über eine wehrhafte Befestigung verfügt haben.

Zwei verheerende Stadtbrände 1686 und 1780 haben die ältere Bausubstanz der Stadt nahezu vollständig vernichtet. Das 1573–1575 unter Einbeziehung eines Vorgängerbaus errichtete Rathaus wurde zwar beim Brand 1780 stark beschädigt, aber in abgewandelter Form wieder aufgebaut. Es handelt sich um einen repräsentativen Renaissancebau, der deutliche Einflüsse des sächsisch-ernestinischen Hofbaumeisters Nikolaus Gromann aufweist. Das älteste erhaltene Wohnhaus ist das »Schreibersche Haus« auf dem Nikolaiberg, das als Teil eines herrschaftlichen Lehnhofes nach dem Brand 1686 in der heutigen Form errichtet wurde. Es ist eines der acht Freihäuser, die als Kanzleilehen seit dem 16./17. Jahrhundert zunächst an Angehörige der Ritterschaft, später an herrschaftliche Amtsträger und zuletzt auch an einfache Bürger vergeben wurden. Sechs dieser acht Häuser lagen im westlichen Bereich der Stadt um das Alte Schloss und die Johanniskirche, zwei auf dem städtebaulich dominanten Nikolaiberg. Ehemals zwischen Altem Schloss und Kirche gelegen, blieb als einziges herrschaftliches Gebäude in der Stadt das ab 1720 erbaute Regierungsgebäude erhalten, dessen Vorläufer an dieser Stelle die von Heinrich Posthumus eingerichtete Kanzlei war. 1717 erwarb Heinrich XVIII. ein Haus am Markt, das später wiederholt als herrschaftliche Wohnung genutzt wurde, nachdem bereits seine Mutter sich 1688 am Johanniskirchplatz ein Haus als Witwensitz hatte ausbauen lassen, das nachmalige fürstliche Palais.

Im Wesentlichen entfaltete sich die herrschaftliche Repräsentation auf dem Schloss Osterstein und in dessen Umfeld. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert sind zahlreiche Um- und Ausbaumaßnahmen bezeugt, die die mittelalterliche Burg zu einer immer umfangreicheren Schlossanlage umformten. Zwischen Schloss und Stadt erstreckten sich mit Hofgut, Hausmühle, Hofwiesen und Küchengarten herrschaftliche Versorgungsbetriebe. Im parkartig gestalteten Küchengarten entstand ab 1729 die Orangerie in der Art eines Schlösschens. Für das 17. Jahrhundert sind mehrere Begräbniszüge bezeugt, bei denen die Toten in großen, feierlichen Prozessionen vom Residenzschloss zur Beisetzung in der Stadtkirche überführt wurden. Eine der bildlichen Darstellungen, die davon angefertigt wurden, ist noch erhalten: Der Leichenzug von 1670 ist eine der frühesten Quellen zu Aussehen und zeitgenössischer Wahrnehmung der Stadt und ihrer Umgebung. Aus der Zeit davor ist nur eine, allerdings sehr gute und aussagekräftige Stadtansicht bekannt – die farbige Zeichnung im Reisealbum des Pfalzgrafen Ottheinrich aus dem Jahr 1537.

Für den Wiederaufbau nach 1780 – von den 729 Wohnhäusern der Stadt waren 656 niedergebrannt – erließ Heinrich XXX. eine neue Bauordnung. Umfangreiche Spenden aus allen Teilen Deutschlands und dem europäischen Ausland ließen eine prachtvolle barocke Bürgerstadt entstehen. Die alte Stadtkirche, die ihre Gestalt als spätgotische Hallenkirche im 15. Jahrhundert erhalten hatte, wurde nicht wieder aufgebaut, sondern nur die Salvatorkirche, auf die nunmehr auch die Funktion als herrschaftliche Grablege überging. Beigesetzt wurden hier nur noch Heinrich XXX. und seine Witwe, da mit ihm die G.er Linie der Reußen ausstarb.

Das Stadtwappen – 1350 erstmals bezeugt und anscheinend nie wesentlich verändert – gibt ohne jedes spezifisch städtische Attribut allein das Familienwappen der Vögte von Weida, mit Helm und Helmzier, wieder.

(5) In G. wurden wohl seit dem Mittelalter auf St. Bartholomäi und Palmarum Jahrmärkte abgehalten, ein weiterer (St. Margarethen) wurde 1540 vom benachbarten Tinz nach G. verlegt. Ein vierter Jahrmarkt war zeitlich an die Leipziger Messe gekoppelt, die für die Handelsbeziehungen der G.er Kaufleute besondere Bedeutung hatte. Zweimal wöchentlich (im 17. Jahrhundert) boten die lokalen Händler ihre Waren auf dem Nahmarkt an. Die »Herrschaft« genoss ein Vorkaufsrecht auf dem G.er Markt, doch deckte man auch auf den überregionalen Märkten und Messen, vor allem in Leipzig, den Bedarf des Hofes. Die Amts- und Hofrechnungen des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen, dass G.er Handwerker – etwa Goldschmiede, Schlosser oder Töpfer zum Ofensetzen, daneben Bortenwirker und Seidensticker – den Hof belieferten. Die Burgsiedlung Untermhaus beim Osterstein, wo eventuell Hofhandwerker siedelten, war von der städtischen Bannmeile des Handwerksverbotes ausgenommen, welche im Übrigen die gesamte Herrschaft G. umfasste und sich auch auf die Braugerechtigkeit erstreckte.

Da G. innerhalb der Herrschaft G. die einzige Stadt war – lediglich der Marktflecken Langenberg trug ebenfalls gewisse städtische Züge –, trat sie nicht in Konkurrenz zu anderen Zentren. Die Städte der politisch mit G. verbundenen »Oberherrschaft« – Schleiz, Lobenstein und Saalburg – lagen relativ weit entfernt. Auch sie besaßen Schlösser, die zumindest zeitweilig als Residenz dienten, die politischen Zentralfunktionen konzentrierten sich aber seit dem frühen 17. Jahrhundert in G. Schon seit der bggfl.en Zeit, vor allem aber ab 1595 fanden in G. Landtage statt. Offenbar gleich bei der Einrichtung der zentralen Kanzlei 1604 verlegte Heinrich Posthumus deren Räumlichkeiten vom Schloss in das Kanzleigebäude in der Stadt. Das landesherrliche Dienstpersonal wurde vorzugsweise mit Wohnraum in den kanzleischriftsässigen Freihäusern versorgt. Dass für die Einquartierung hochrangiger Gäste des Stadtherrn auch Bürgerhäuser genutzt wurden, deutet eine Regelung des Stadtrechts von 1487 an, wonach für diese Häuser das Schankverbot fremder Weine aufgehoben war.

Zu einem bedeutenden infrastrukturellen Zentrum ist G. dennoch nicht geworden, da die nächstgelegenen Städte – Ronneburg, Weida, Eisenberg – zwar jenseits der politischen Grenzen, aber doch recht nahe lagen.

(6) G. war von der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis 1802 fast ununterbrochen Residenz und Herrschaftszentrum der kleinen Herrschaft G. Dass das Residenzschloss nicht direkt in der Stadt, sondern in geringer Entfernung von dieser auf einem Bergsporn lag, ändert nichts an dem Status G.s als Residenzstadt: In der Stadt wurden die Erbhuldigungen durch die wichtigsten Amtsträger des Landes vorgenommen, in der städtischen Pfarrkirche befand sich die herrschaftliche Grablege, und repräsentative Stadthäuser dienten Ehefrauen und Witwen der Regenten, aber auch hochrangigen Angehörigen der Ritterschaft und später den Staatsbeamten als Wohnung. Die Stadt unterstand zwar nicht dem Amt, wurde aber auf rechtlicher Ebene stark vom Stadt- und Landesherrn dominiert, wie zahlreiche Eingriffe in die Autonomie der Stadtgemeinde zeigen. Inwieweit die Bürger diese Einschränkungen als Belastung empfunden haben, ist anhand der Quellenlage kaum zu beurteilen. Bei innerstädtischen Auseinandersetzungen, etwa zwischen Rat und Gemeinde Anfang des 17. oder zwischen den Tuchmachern und Kaufleuten Anfang des 18. Jahrhunderts, konnte das vermittelnde Eingreifen des Stadtherrn der Kommune durchaus von Nutzen sein. Mit der Regierung Heinrich Posthumus’ nimmt das diesbezügliche Schriftgut sprunghaft zu, was sicher nicht nur auf die damals erfolgte Neuordnung des Kanzleiwesens zurückzuführen ist, sondern vor allem auf die neue politische und wirtschaftliche Bedeutung, die dieser Herrscher seiner Stadt G. beimaß und die der weiteren Entwicklung G.s als Residenzstadt nachhaltige Impulse verlieh. Die geringe Ausdehnung des Territoriums, mithin der relativ kleine Aktionsradius des Regenten, bedingte eine besonders enge Bindung zwischen Stadt und Hof. Auch die Adligen, die als kleine Grundherren auf den ländlichen Rittergütern in der Umgebung saßen, waren in den städtischen Organismus eingebunden, indem etliche von ihnen Wohnsitze in der Stadt hatten. Die Ausstrahlung der Stadt innerhalb der kleinen Herrschaft G. war enorm, über deren Grenzen reichte sie jedoch kaum hinaus.

(7) Durch die Stadtbrände im 17. und 18. Jahrhundert wurde der städtische Urkunden- und Aktenbestand für die davor liegende Zeit weitgehend vernichtet. Der herrschaftliche Urkundenbestand des reußischen Hausarchives fiel zu großen Teilen der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Nicht geringe Teile der schriftlichen Überlieferung sind dennoch erhalten, wenngleich an verstreuter Stelle und nicht ohne Weiteres auffindbar: Akten, Schriftwechsel und Rechnungen sowie Amts- und Stadtbücher finden sich in den Beständen des Staatsarchives Greiz und des Stadtarchives Gera, vor allem auch im persönlichen Nachlass des ehemaligen Geraer Stadtarchivars Ernst Paul Kretschmer, der auf beide Archive aufgeteilt ist. Auch das Geraer Stadtmuseum bewahrt in größerem Umfang älteres Schriftgut, Bilder und Pläne auf. – Zopf, Johann Caspar: Reußische Gerauische Stadt- und Land-Chronica, Leipzig 1692.

Alberti, Julius: Urkundensammlung zur Geschichte der Herrschaft Gera im Mittelalter, Gera 1881. – Urkundenbuch der Vögte (1885–1892). – Jauernig, Reinhold: Die Einführung der Reformation in den Reußischen Landen, Gotha 1933 (Visitationsakten).

(8)Hahn, Ferdinand: Geschichte von Gera und dessen nächster Umgebung, Gera 1850. – Brückner, Georg: Volks- und Landeskunde des Fürstenthums Reuß j. L., Gera 1870, v. a. S. 428–448. – Kretschmer, Ernst Paul: Geschichte der Stadt Gera und ihrer nächsten Umgebung, Gera 1926 [nur Bd. 1 erschienen]. – Krahner, Lothar: Die Verfassung und das Recht der Stadt Gera in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 1966. – Kulturdenkmale in Thüringen. Stadt Gera, hg. von Anja Löffler, Erfurt 2007 (Denkmaltopographie Thüringen, 3). – Gera und das nördliche Vogtland im hohen Mittelalter, hg. von Peter Sachenbacher und Hans-Jürgen Beier, Langenweißbach 2010 (Beiträge zur Frühgeschichte und zum Mittelalter Ostthüringens, 4). – Wagner, Matthias: Bilder der Stadt. Die Geraer Stadtansichten ab 1537. Gera 2012. – 775 Jahre Stadt Gera. Beiträge zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte, Gera 2017 (Geraer Hefte, Heft 5).

Christine Müller