Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Dorpat (Tartu)

Dorpat (Tartu)

(1) D., gelegen im Nordteil der estländischen Landschaft Ugaunien am schiffbaren Embach, rund 30 km vor dessen Mündung in den Peipus, ist Kreuzung wichtiger Verkehrsverbindungen von Riga nach Wesenberg und Narwa und von der Rigaer Bucht nach Narwa und Pleskau. Ihre Lage empfahl die Stadt als herrschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt, den sie als Sitz von Bischof und Domkapitel der gleichnamigen Diözese der Rigaer Kirchenprovinz von 1254 bis 1563 ausfüllte. Mit der Belehnung Bischof Hermanns von Bekeshovede durch den Römischen König Heinrich (VII.) 1225 wurde der Bischof von Leal-D. Reichsfürst für sein im Wesentlichen aus Ugaunien bestehendes Hochstift und für die westlich angrenzende, unter der Herrschaft des Schwertbrüderordens stehende Landschaft Sakkala und ihrer Nebenlande. Obwohl Lehnseide der Schwertbrüder und des ihnen nachfolgenden Deutschen Ordens von 1257 an nicht mehr nachzuweisen sind, konnten die D.er Bischöfe ihre Reichsunmittelbarkeit behaupten, was sich nachhaltig auf ihr Verhältnis zum Deutschen Orden auswirkte. Als größter Widersacher des Ordens gilt Bischof Dietrich Damerau, der nicht nur diesen bei Kaiser Karl IV. in Verruf brachte, sondern 1396 auch ein Bündnis mit dem litauischen Großfs.en Witold und den Vitalienbrüder gegen ihn schmiedete. Nachdem der livländische Ordensmeister das Stift mit Ausnahme von Stadt und Bf.sburg D. besetzt und der Bischof sich auch noch mit seinem Domkapitel und der Stadt überworfen hatte, resignierte Dietrich 1403 von seinem Amt. D.s Funktion als Residenz- und Kathedralstadt endete mit der Eroberung durch die Russen 1558. 1563 wurde das Bistum förmlich aufgehoben, nachdem sich die Länder Livland und Kurland der polnischen Oberhoheit angeschlossen hatten. Seit 1625 machte D. Teil der schwedischen Besitzungen aus, die Universität wurde 1632 vom schwedischen König Gustav II. Adolf gegründet. 1721 kam D. mit dem Frieden von Nystad an das Zarenreich.

(2) D. entstand aus einer Befestigungsanlage, die 1030 der Kiewer Großfs. Jaroslaw der Weise/Jurjew erobert hatte. Aufständische nahmen 1061 und wiederum 1138 die von den Russen errichtete Zwingburg ein. Schließlich hatten 1224 deutsche Kreuzfahrer das castrum Tharbatense gewonnen. Bereits im selben Jahr bestimmte Bischof Hermann den Bau der Bf.sburg und der Domkirche St. Peter und Paul und machte D. zum neuen Mittelpunkt des 1211 gestifteten Bm.s Leal. Burg und die Domkirche liegen auf dem Höhenrücken parallel zum Embach und waren dadurch von der sich darunter bis zum Flussufer erstreckenden Stadt getrennt. Die 1248 gegründete Bürgersiedlung galt nach Riga als zweitgrößte Stadt des spätmittelalterlichen Livlands mit schätzungsweise 6000 Einwohnern am Ende der Ordenszeit. Im Laufe des Spätmittelalters erhielt D. einen Mauerring mit zehn Türmen und fünf Toren. Die Feuersbrünste von 1329 und 1335 hemmten die Stadtentwicklung.

Die städtische Gerichtsbarkeit ließen die Bischöfe durch Stadtvögte ausüben, allerdings war der erst seit 1319 nachweisbare Rat zweite Instanz und für schwere Straftaten sogar alleine zuständig. Zudem besaß der Rat das Privileg, an den Rigaer Rat zu appellieren, was ihm zu einer größeren Unabhängigkeit vom Bischof verhalf. Seit 1423 ist ein bfl.er Drost nachweisbar, der mit einem alten und einem jungen städtischen Vogt das Vogteigericht bildete. Dies belegt mittelbar, dass sich die Vogtei im Verlauf des Spätmittelalters auch in D. zu einem städtischen Amt gewandelt hatte. Das Münzrecht erwarb der Rat vor 1420 vom Bf.

Gelegenheit zum Austausch zwischen städtischer Gemeinde und bfl.em Hof sowie Domkapitel boten die auch von Riga und Reval bekannten Festlichkeiten des »Maigrafen« und des »Papageienschießens«. Hinzu kam, dass vier Mal im Jahr, zu Fasnacht, Pfingsten, Michaelis und zu Weihnachten, der Bischof, Domkapitel und Rat gemeinsam das sog. »Festtrünken« ausrichteten. Eine D.er Besonderheit scheint der »Schuhdeuvel« genannte Mummenschanz gewesen zu sein, der starke Anklänge an heidnisches Brauchtum verspüren ließ.

(3) Die nach dem Vorbild der Lübecker Marienkirche errichtete gleichnamige Pfarrkirche, eine fünfschiffige Basilika, galt als größter Kirchenbau in Livland, nachdem im Jahre 1478 der Chor und die beiden Türme vollendet worden waren. Daneben gab es die Pfarrkirchen zum Hl. Johannes dem Täufer und zum Hl. Jacobus. Diese lag mit dem benachbarten Katharinenkloster der Zisterzienserinnen am unbefestigten Domabhang. 1300 wurde das Dominikanerkloster mit der Maria-Magdalenen-Kirche errichtet, ein Franziskanerkloster wird 1345 erwähnt. Beide Klöster, zwischen russischer und Mönchspforte, lagen in der Nähe der Stadtmauer zum Embach hin. Unweit der russischen Pforte befand sich die Hl.-Geist-Kirche mit dem gleichnamigen Spital, das noch 1514 ausgebaut wurde. Außerdem gab es die orthodoxe Michaels- und die Nikolauskirche für die Nowgoroder und für die Pleskauer. Die Kleine oder Mariengilde besaß spätestens 1449 ein eigenes Versammlungshaus. Die Gildestube der Großen Gilde am Großen Markt war so geräumig, dass sie Platz für die gelegentlich in der Stadt tagende livländische Ständeversammlung bot. Die Kaufgesellen bildeten die Kompagnie der Schwarzhäupter, die sich in der Kompagniestraße in der Nähe des Großen Marktes zu versammeln pflegte. Die zumeist estnischen Fuhrleute und die »Rumenike« genannten estnischen Fischhändler waren in zunftartigen Vereinigungen zusammengeschlossen. Erste reformatorische Bewegungen gingen von dem Thomas Münzer-Anhänger Melchior Hofmann aus, der im Herbst 1524 in D. eintraf. Seine Lehren führten bald zu Bilderstürmen. Dem Rat gelang erst durch die Berufung des Rigaer Sylvester Tegetmeier zum Pastor die Beschwichtigung der Auseinandersetzungen. Nach der Berufung Johann Blankenfelds zum Erzbischof von Riga 1524 übten die Domherren die Statthalterschaft für Blankenfeld aus, der Bischof von D. blieb. Der zwischen dem Domkapitel und den Protestanten ausgehandelte Kompromiss gestand den Evangelischen die Stadtkirchen mit Ausnahme der geschlossenen Klöster zu. Die Pfarrkirche St. Johannis wurde mit dem Einzug der Reformation für den Gottesdienst in estnischer Sprache geöffnet; estnische Gemeindemitglieder wurden u. a. vom Kaplan Franz Witte betreut, der einen heute verlorenen lutherischen Katechismus ins Estnische übersetzt hat. Die Domkirche blieb bis zur russischen Eroberung der Stadt 1558, in deren Gefolge der größte Teil der Bevölkerung deportiert und das Stadtarchiv weitgehend vernichtet wurde, katholisch. Neben der bis 1558 bestehenden Domschule, an der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts der Karmeliter und Verfasser eines Schachbuchs, Meister Stephan, tätig gewesen sein dürfte, ist seit 1527 eine städtische Lateinschule nachweisbar.

(4) Baulich wurde D. dominiert von der Burg und der zweitürmigen Domkirche, die über der Stadt thronten. Die Johanniskirche war mit einem Fries aus gebrannten Ziegelfiguren geschmückt. Die Ausstattung des Katharinenklosters der zumeist adeligen Zisterzienserinnen muss derart prachtvoll gewesen sein, dass sie die Bewunderung des russischen Metropoliten Isidor, der sich 1437 auf der Durchreise befand, hervorrief. Die älteste Ansicht D.s von 1553 vermittelt der Holzschnitt eines anonymen Künstlers. Die danach überlieferten Stadtansichten stammen erst aus dem frühen 18. Jahrhundert Da ein Großfeuer 1775 nahezu die gesamte Stadt zerstörte, sind (von der Johanniskirche abgesehen) so gut wie keine Gebäude aus älterer Zeit erhalten.

(5, 6) Die Stadt verdankte ihren Wohlstand vornehmlich dem Russlandhandel. Spätestens seit 1363 war D. neben Riga und Reval auf den Hansetagen vertreten. Eine Mitgliedschaft in anderen Städtebünden ist nicht bekannt. Von D. aus verwaltete der Bischof sein Hochstift, wenn er nicht in einer der sechs anderen Burgen oder auf Schloss Sagnitz, seinem Tafelgut, weilte. Noch aus dem Besitzverzeichnis von 1582 lässt sich erkennen, dass die großen Vasallengeschlechter des Hochstifts wie die Tiesenhausen oder Stackelberg Hausbesitz in D. hatten. Der Stadt gehörte das jenseits des Embachs gelegene Gut Ratshof, das der Rat zur Verbesserung der städtischen Einnahmen vom Bischof erhalten hatte.

Als Residenzstadt ist D. bisher so gut wie gar nicht untersucht worden, so dass sich Aussagen zur Verflechtung zwischen städtischer Gesellschaft und Hofpersonal nicht treffen lassen. Von tiefgreifenden Konflikten blieb das Verhältnis zwischen Stadt und Stadtherr verschont.

(7) Die meisten Urkunden liegen gedruckt vor im Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, I, Bde. 1–12 (1853–1910); II, Bde. 1–3 (1900–1914). – Rüssow, Balthasar: Chronica der Provintz Lyfflandt …, Barth 1584 (ND Hannover 1967). – Renner, Johannes: Livländische Historien 1556–1561, hg. von Peter Karstedt, Lübeck 1953. – Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten, bearb. von Ulrich Müller, Köln/Weimar/Wien 1996 (Veröffentlichen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 41). – Herzog Albrecht von Preußen und Livland, Bde. 2–7 (2002–2008). – Fijałkowski, Adam, Thumser, Matthias: Zwei Dorpater Besitzverzeichnisse von 1582 und 1601, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) S. 498–520.

(8)Rauch, Georg von: Stadt und Bistum Dorpat zum Ende der Ordenszeit. Hellmuth Weiss zum 75. Geburtstag, in: Zeitschrift für Ostforschung 24 (1975) S. 577–626. – Andersson, Anke: Melchior Hoffmann in Dorpat und Kiel, in: Estland, Lettland und westliches Christentum: estnisch-deutsche Beiträge zur baltischen Kirchengeschichte, hg. von Siret Rutiku, Kiel 1998, S. 103–117. – Jähnig, Bernhart: Dietrich Damerau (um 1330/35 – nach 1408). 1379? – 1400 Bischof von Dorpat, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, bearb. von Clemens Brodkorb, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 146. – Schuchard, Christiane: Johann Blankenfeld († 1527) – eine Karriere zwischen Berlin, Rom und Livland, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin (2002) S. 27–56. – Hartmann, Stefan: Aspekte der Außenbeziehungen Livlands im Spiegel der Korrespondenz Herzogs Albrechts von Preußen (1525–1570), in: Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit, hg. von Norbert Angermann, Karsten Brüggemann und Inna Põltsam-Jüro, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 131–163.

Dieter Heckmann