Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Hoym

Hoym

(1, 2) H. (1148/49: Hoym, »Hochheim«), heute Teil der Stadt Seeland, ca. zwölf Kilometer östlich von Quedlinburg gelegen, entstand an einer Furt, wo die Straße von Halberstadt nach Aschersleben die Selke überquerte. Der 961 erstmals erwähnte Ort kam als Schenkung an das Stift Quedlinburg und wurde eine Villikation. Wichtige Grundbesitzer waren im Spätmittelalter und früher Neuzeit die Herren von H. (die Familie brachte mehrere Bischöfe hervor und verzweigte sich später u. a. nach Sachsen und Preußen, wo sie seit um 1700 hohe Amtsträger und Minister stellte) sowie die Herren von Thal. Die Burg (1301 erstmals als castrum bezeichnet) kam 1317 durch einen Tausch mit dem Stift Quedlinburg an Fürst Bernhard II. von Anhalt-Bernburg, wobei das Stift die formelle Lehnshoheit bis 1802 behielt. Dorf, Gericht und Burg wurden mehrmals verpfändet (z. B. 1417–1424 an den Rat der Stadt Quedlinburg). Nach dem Ende der älteren Bernburger Linie fiel H. 1468 an Georg I. von Anhalt-Zerbst, bei der Erbteilung seiner Söhne an die Köthener Linie. Um 1500 war H. ein Flecken mit einen »Burmester« an der Spitze. Klaus von Thal, seit 1528 Besitzer des H.er Oberhofs (Fronhof, später Teil der Domäne), erwarb den gesamten Pfandbesitz H.s vom Fürsten Wolfgang von Anhalt-Köthen, den die Einwohner H.s 1540 selbst auslösten und dafür von Fürst Wolfgang 1540/43 Stadtrechte erhielten, die Rathausbau, Siegel, Verpachtungs- und Verbriefungsrechte, Markt-, Brau- und Schankrechte, Landtagsteilnahme usw. regelten. Der Rat der Stadt bestand aus drei Mitteln (jährlich wechselnd). Gräben und Dorfettern mit zwei Toren schützten H.; Stadtmauern gab es nicht. H. fiel bei der anhaltischen Teilung 1603/06 Christian I. von Anhalt-Bernburg zu. Nach Pestepidemien und Plünderungen im Dreißigjährigen Krieg machte sich Fürst Victor Amadeus (1634–1718, reg. ab 1656) um die Stadt verdient, als er 1677 den Oberhof von Gebhard von H. erwarb, die Domäne ausbaute, 1709 Teile des trockengelegten Ascherslebener Sees (»Seeländereien«) kaufte, dort ein Vorwerk errichten ließ und mit dem Bau des Schlosses begann.

H. wurde 1718/20 Residenzstadt eines Paragiums, d. h. einer apanagierten Nebenlinie ohne Landeshoheit (Anhalt-Bernburg-Schaumburg-H.). Fürst Victor Amadeus hatte trotz 1677 eingeführter Primogenitur seinem jüngeren Sohn Lebrecht (1669–1727) 1707 das Amt H. als Abfindung zugesprochen, u. a. um die konfliktträchtige Erbfolge des bevorstehenden, 1709 erfolgten Anfalls der Linie Harzgerode zu lösen. Der Streit zwischen Lebrecht und dem Erbprinzen Karl Friedrich wurde durch den Bernburger Vertrag 1709 zunächst gütlich beigelegt. Für die Anerkennung der Primogenitur sowie der Anwartschaft seines Bruders auf Harzgerode erhielt Lebrecht Stadt und Amt H. (mit den Seeländereien und um vormals Harzgeroder Besitz erweitert) zugesprochen. Der von Fürst Victor Adameus in Angriff genommene Bau des Residenzschlosses in H. wurde 1714–1720/21 abgeschlossen; sein Sohn Lebrecht wohnte bis 1720 in Haus Zeitz bei Alsleben, ab 1720 in H. Bereits 1718, sogleich nach dem Tod des Vaters, hatte Lebrecht von H. Besitz ergriffen. Im selben Jahr verlieh er der H.er Schützengilde Privilegien und stiftete eine Fahne mit der Jahreszahl »1718«; in die Fahnenspitze wurde »Lebrecht Fürst zu Anhalt« mit Wappen und Krone eingraviert. Bald flammte der Erbstreit zwischen Lebrecht und Karl Friedrich (reg. 1718–1721) erneut auf, letzterer ließ 1719 H. durch seine Truppen überfallen und einen Schöffen nach Ballenstedt verschleppen. Nach dem Tod Karl Friedrichs einigte sich Lebrecht 1722 mit seinem Neffen Victor Friedrich (reg. 1721–1765). Nach Lebrechts Tod 1727 ließ sich sein ältester Sohn Fürst Victor (I.) Amadeus Adolph (1693–1772), durch den Tod der Großmutter mütterlicherseits seit 1708/14 Reichsgf. von Holzappel und Herr zu Schaumburg, auch in H. huldigen, residierte jedoch meist auf Schloss Schaumburg an der Lahn. H. war vom kostspieligen Lebensstil des Fürsten nur indirekt betroffen, litt indes durch Kontributionen und Zwangsrekrutierungen während des Siebenjährigen Krieges.

Unter dem aufgeklärten Fürsten Carl Ludwig (reg. 1772–1806) konsolidierten sich die Verhältnisse, er förderte Landwirtschaft, Gewerbe und Schulen und milderte Frondienste. Ab Juli 1796 wurde H. erstmals seit den Tagen Fürst Lebrechts wieder Residenz im engeren Sinne, als sich das Fürstenpaar und die Familie des Erbprinzen während der Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich hierher zurückzogen. Die Beziehungen zur Stadt H. und zur Bernburger Hauptlinie gestalteten sich harmonisch; nach dem Aussterben des Hauses Zerbst verzichtete Carl Ludwig 1797 gegen eine jährliche Rente auf seinen Erbanteil. Da das benachbarte Ballenstedt seit 1765 Residenzstadt der Fürsten von Anhalt-Bernburg war, verkehrte die Schaumburger Familie viel am dortigen Hof. Die älteren Töchter des Erbprinzenpaars wurden 1797 und 1800 in H. geboren. Nach dem Frieden von Lunéville verließ die fürstliche Familie H. 1801 und ging, zum Bedauern der Einwohner H.s, nach Schaumburg zurück. Fürst Carl Ludwig starb kurz nach der Mediatisierung seiner Reichsgft. durch die Rheinbundakte 1806. Holzappel und Schaumburg kamen an das neue Herzogtum Nassau, während das »Fürstlich-H.sche Paragium« unter Fürst Victor (II.) Carl Friedrich (reg. 1806–1812) noch sechs Jahre bestand und 1812 beim Tod des unvermählten letzten Fürsten Friedrich Ludwig Adolph an Herzog Alexius zu Anhalt-Bernburg fiel.

Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung H.s in Spätmittelalter und früher Neuzeit ist unerforscht. Im 18. Jahrhundert erholte sich H. vom massiven Bevölkerungsverlust im Dreißigjährigen Krieg (von 850 Einwohnern um 1700 auf 1400 um 1750). Während der Anwesenheit des Hofes 1796–1801 hatte es ca. 2000 Einwohner, 1805 immerhin noch knapp 1900 in 350 Haushalten. Der Magistrat (Bürgermeister, Kämmerer, Stadtschreiber) war in seinen Befugnissen sehr beschränkt und dem fsl.en Amt unterstellt. H. war Sitz einer fsl.en Rentkammer für die landesherrlichen Einkünfte und eines Justizamts als Gerichtsbehörde (Appellationen gingen an die Regierung in Bernburg). Von den Einwohnern waren außer den Tagelöhnern, Handwerkern, Kaufleuten und einigen Advokaten, Ärzten usf. die meisten freie oder dienstpflichtige Landwirte. Seit etwa 1790 mehrten sich (wohl erfolgreiche) Beschwerden gegen Hand- und Spanndienste. Die Handwerker waren in Zünften und Innungen organisiert. Eine fürstliche Brauerei versorgte die herrschaftlichen Güter und den Hof, die Gemeindebrauerei den Ort H. und Reinstedt. Es gab eine Ziegelei und mehrere fürstliche und private Wassermühlen im Amt H. Die Steuern und Abgaben entsprachen um 1800 denen in ganz Anhalt (Landsteuer, Quarten, Erbzins u. a.).

(3) Die im 15. Jahrhundert spätgotisch umgebaute Kirche St. Johannis soll bereits im 9. Jahrhundert entstanden sein, sie ist spätestens für die Zeit der Quedlinburger Villikation anzunehmen und dürfte Kern des Dorfs gewesen sein. H. lag im frühen Hauptgebiet der lutherischen Reformation, die Fürst Wolfgang in Anhalt einführte. Um 1600 wurde die reformierte Konfession verbindlich gemacht, der ein Großteil der Bevölkerung dann bis um 1800 angehörte. St. Johannis stand (wie die anderen Kirchen im Amt H.) unter fsl.em Patronat. Es gab in H. eine von einem Rektor geleitete Schule. Kirchliche Fragen regelte in der frühen Neuzeit das Konsistorium in Bernburg. Seit Ende des 18. Jahrhunderts durften die Lutheraner zweimal im Jahr in der reformierten H.er Kirche das Abendmahl feiern. 1768 existierte in H. eine Herrnhuter Brüdergemeinde. Um 1800 lebten in der Stadt 20 jüdische Familien.

(4) Bis um 1700 war das Ortsbild von der Wasserburg geprägt, die 1641 der Bevölkerung als Zufluchtsort diente und deren Reste bis 1710 am heutigen Schlossplatz standen. Die Steine fanden beim Bau des barocken Residenzschlosses Verwendung (der Rohbau war 1714 fertig, die Innenausstattung 1720). Wie ein Triumphbogen wirkt das mit Götterfiguren und der bekrönten Büste des Erbauers Victor Amadeus geschmückte Einfahrtstor samt monumentaler Inschriftentafel, deren Text auf dem Kupferstich des Schlosses (in: Lenz 1757) dokumentiert ist. Das von Fürst Lebrecht dem Schloss gegenüber errichtete Prinzenhaus trägt eine lateinische Widmungsinschrift mit dem Datum 1721; 1796–1801 wohnte hier Erbprinz Victor Carl Friedrich mit seiner Familie. An der Hofapotheke (1709), am Domänengebäude (1767) und in der Kirche finden sich fürstliche Wappen. Das Stadtwappen zeigt den anhaltischen Bären, einen Schild mit drei schrägen goldenen Balken auf schwarzem Feld in den Vordertatzen haltend. Eine Steintafel des Rathauses mit der Jahreszahl »1540« erinnerte an Fürst Wolfgang bzw. die Verleihung der Stadtrechte und wurde in den Neubau von 1861/65 eingefügt. In der St. Johanniskirche wurde keine Grablege errichtet; Fürst Lebrechts erste Gemahlin ruht in der Bernburger Fürstengruft St. Aegidien, er selbst und viele der Nachfahren in der Schaumburger Schlosskirche.

(5) H. war Sitz des kleinen Amts H., zu dem zwei Dörfer (Reinstedt und Frose) gehörten, die um 1800 ca. 1200 bzw. 1500 Einwohner hatten. Jahrmärkte fanden in H. montags nach Peter und Paul und nach St. Gallus statt; es gab mehrere Gasthöfe. Im Zuge des preußischen Straßenbaus in der Region wurde um 1780 ein Steindamm gebaut und Wegegeld erhoben. Bis zum Frieden von Tilsit 1807 lag H. an der Poststraße von Halle nach Halberstadt.

(6) Die Lage an einer Handels- und Heerstraße gab H. eine gewisse Bedeutung, barg in Kriegszeiten indes Gefahren und führte im 17. Jahrhundert zu massiven Bevölkerungsverlusten. Um 1800 hatte sich H. mit immerhin knapp 1900 Einwohnern konsolidiert. Es gibt noch viele Forschungsdesiderate zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte H.s. Bedingt durch die seltene Anwesenheit der Fürsten waren die Merkmale und typischen Strukturen bzw. Wirtschaftsmechanismen einer Residenzstadt in H. schwach ausgeprägt. Nur in den Jahren um 1720 und um 1800 kam es kurzfristig zu einer Belebung durch die Präsenz der Fürsten und ihrer Hofhaltung. Der Magistrat stand weitgehend unter dem Einfluss der fsl.en Amtsverwaltung; die landesherrlichen Amtsträger kamen in der Regel aus der Region. Der Heimfall an die Hauptlinie 1812 verlief reibungslos.

(7) Im LHA Sachsen-Anhalt, Dessau, befinden sich Briefe des Fürsten Victor Amadeus an seinen Sohn Lebrecht (1685–1702): Z 18, A 10, Nr. 9a; kaiserliche »Konklusa« zum Bruderzwist (1717/18): Z 18, A 17b I Nr. 117, usf. – Vgl. im LHA Koblenz: Inventar des Archivs der Grafschaft Holzappel und der Herrschaft Schaumburg, 2 Bde., bearb. von Peter Brommer, Koblenz 1999 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, 82/83), siehe dort Teil C.: Anhaltische Verwaltung. – Einzelbriefe der Fürsten: UB Leipzig, Autographensammlung Kestner (Slg. Kestner/II/A/I/8). – Materialien in der Stadtbibliothek Hoym, zusammengestellt von Evelyn Aissa Maadaoui. – »Prospect des Neuen Schlosses zu Hoymb von Fürst Victoris Amadei zu Anhalt Hoch Fürstl. Durchl. erbauet«, Kupferstich, wohl von Johann Gottfried Krügner d. Ä. nach Johann Tobias Schuchart, in: Lenz, Samuel: Becmannus Enucleatus […], Köthen, Dessau 1757.

Beckmann, Johann Christoph: Historie des Fürstenthums Anhalt, 2 Bde. [in 7 Tl.en], Zerbst 1710, und: Accessiones Historiae Anhaltinae […], zugleich Continuation der Anhaltischen Geschichte […], Zerbst 1716. – Moser, Johann Jacob: Staats-Recht des Hoch-Fürstlichen Hauses Anhalt […], Leipzig/Frankfurt 1740. – Lenz, Samuel: Becmannus Enucleatus, Suppletus et Continuatus, Oder: Historisch-Genealogische Fürstellung des Hochfürstlichen Hauses Anhalt […], 2 durchpag. Tle. in 1 Bd., Köthen/Dessau 1757. – Bertram, Philipp Ernst, fortgeführt von Krause, Johann Christoph: Geschichte des Hauses und Fürstenthums Anhalt, 2 Bde., Halle 1780–1782. – Anhalt-Bernburgische Wöchentliche Anzeigen, Bernburg 1797–1813.

Codex diplomaticus Anhaltinus (1867–1883). – Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg, 2 Bde., […] hg. von Karl Janicke, Halle 1873–1882.

(8)Bäntsch, Lebrecht Ludwig: Handbuch der Geographie und Geschichte des gesammten Fürstenthums Anhalt […], Leipzig 1801. – Stenzel, Gustav Adolf Harald: Handbuch der Anhaltischen Geschichte, Dessau 1820. – Die Kunstdenkmale der Kreise Ballenstedt, Bernburg, Köthen, Dessau, Zerbst, hg. von Franz Büttner Pfänner zu Thal, Dessau/Leipzig 1892. – Ehlers, Adolf: Hoym. Eine geschichtliche Beschreibung, Köthen 1903 (Beiträge zur Anhaltischen Geschichte, 7). – Wäschke, Hermann: Anhaltische Geschichte, 3 Bde., Köthen 1912–1913. – Keil, Ernst: Das anhaltische Gericht Hoym im Pfandbesitz der Stadt Quedlinburg, 1417–1424 und 1437–1473 […], in: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 65 (1932) S. 82–111. – Brommer, Peter: Der Streit zwischen Prinz Lebrecht von Anhalt-Bernburg und seiner Schwiegermutter, Fürstin Elisabeth Charlotte von Nassau-Schaumburg, über die Regierungsgewalt im Jahre 1696, in: Nassauische Annalen 109 (1998) S. 215–228. – Müller, Kurt: Geschichte des Kreises Ballenstedt, hg. von Karl-Heinz Börner und Christoph Schröter, Ballenstedt 2006. – Voigt, Axel, Schlenker, Gerlinde, u. a.: Geschichte Anhalts in Daten, hg. vom Verein Studium Hallense e. V. […], Halle 2014.

Petra Dollinger