Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Wenden (Cēsis)

Wenden (Cēsis)

(1) W., 80 km nordöstlich von Riga gelegen, ist zwei Kilometer vom linken Ufer der Livländischen Aa entfernt. Als Bischof Albert von Riga und der Schwertbrüderorden 1207 die von ihnen eroberten Gebiete aufteilten, erhielt letzterer das Land links der Livländischen Aa mit dem Wohnplatz der Wenden, wohl einer Gruppe der kurländischen Liven, die sich im 12. Jahrhundert hier auf einer Erhöhung, dem späteren »Nussberg«, angesiedelt hatten. Ordensbrüder gesellten sich ihnen 1207 zu, und gemeinsam überstanden sie 1210 und 1218 Belagerungen durch Esten und Russen. Bald nach 1210 errichtete der Orden auf dem daneben gelegenen Berg eine weitere Burg, der dem Nussberg fortan als Vorwerk diente. Sie wurde 1218 und 1221 von Russen erfolglos belagert, doch im letzteren Jahr brannten diese das zu Füßen der Burg gelegene Dorf ab. Danach entstand im Süden und Osten der Burg eine neue, 1224/27 als Hakelwerk erwähnte Siedlung, in der sich deutsche Kaufleute niederließen.

Nachdem der Schwertbrüderorden 1237 in den Deutschen Orden inkorporiert worden war, sind mit Unterbrechungen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts einige Komture in W. nachweisbar. Nach 1350 erscheinen nur noch (gelegentlich auch vorher belegte) Vögte. Ihre Einsetzung mag damit zusammenhängen, dass W. seit der Zeit des livländischen Ordensmeisters Goswin von Herreke (1345–1359) vermutlich der unmittelbaren Verwaltung der Meister unterstellt wurde. Die Meister und ihr Rigaer Konvent bezogen ihre Einkünfte aus der Vogtei W. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts steht W. unter deren Aufenthaltsorten an zweiter Stelle nach der Residenz Riga, wenn auch mit weitem Abstand. In den 1430er Jahren hielt sich der Ordensmeister für fünf Jahre in W. auf. Nach einem Aufstand der Rigaer Bürger und der Zerstörung des dortigen Schlosses Anfang der 1480er Jahre siedelte er gänzlich nach W. über. Auch nach der Unterwerfung Rigas 1491 blieb W. Haupthaus bis zum Untergang des Ordens 1561; W. wurde Hauptaufenthaltsort, die Meister verzichteten zunehmend auf ihre Reiseaktivitäten. Die wichtigsten Beratungen des livländischen Ordens fanden außerhalb Rigas statt, die unregelmäßigen Gespräche der Ordensmeister mit Gebietigern neben Wolmar vor allem in W. (im 16. Jahrhundert durchgängig), die regelmäßigen Kapitel fast ausschließlich in W. Zum Kammergut der Vogtei W. gehörten die Kirchspiele Wenden, Arries, Wolmar, Trikaten, Burtneck, Ermes und Helmet. In W. gab es nach dem Visitationsbericht von 1451 einen überdurchschnittlich großen Konvent (nur von Riga und Fellin deutlich übertroffen), die W.er Burg galt als bestens versorgt.

Der Ausbruch des Livländischen Krieges (1558–1582) zwischen dem Orden und dem Großfsm. Moskau führte zu einem Widerstand der Stadt gegen die Rüstungsvorhaben ihres Landesherrn. 1561 wurde W. wie andere Landesteile vom Orden an König Sigismund II. August von Polen abgetreten. Damit endete W.s Funktion als Residenzstadt. König Sigismund sicherte die Beibehaltung alter Rechte zu, doch unter seinem Nachfolger Stephan Báthory wurden diese eingeschränkt, zumal er die Rekatholisierung betrieb (1582 Gründung des katholischen Bm.s Livland mit W. als Bf.ssitz). Vom späten 16. bis zum späten 17. Jahrhundert war W. Zentrum einer Wojewodschaft bzw. eines Palatinats, also Amtsstadt.

(2) W. wird in den Quellen über die Jahrhunderte hinweg fast immer als »Stadt« (»Civitas«) bezeichnet, Benennungen als »Städtchen« oder »Städtlein« sind anders als bei Kokenhusen höchst selten. Die Erwähnung von Bürgern (1314), von Ratmannen (1323) und von Bürgermeistern (1365) belegen hinlänglich den städtischen Charakter W.s für das frühe 14. Jahrhundert W. übernahm wie fast alle livländischen Städte das Rigische Recht; im 16. Jahrhundert wurde W.s Rechtsverfassung vorbildlich für andere livländische Städte (das kurländische Goldingen erhielt 1538 W.er und Wolmarer Recht). Namen der Amtsträger im 15. Jahrhundert deuten auf eine deutsche Herkunft hin; 1467 sind verwandtschaftliche Beziehungen eines W.er Bürgers nach Hamburg belegt. Ein Stadtbuch für Immobilienübertragungen ist für 1537 bezeugt. Als bürgerliche Organisationen sind neben dem Rat Handwerkergilden (Große Gildestube) zu nennen. Wenige Bewohner W. tauchen in den Rigaer Erbebüchern als Besitzer von Häusern in der Dünametropole auf.

Die wirtschaftliche Entwicklung W.s war durch die Lage an der Fernhandelsstraße Riga – Dorpat – Pleskau bzw. unter Umgehung Dorpats an der Straße Riga – Marienburg – Pleskau begünstigt. W.s Kaufmannschaft profitierte im 16. Jahrhundert erheblich vom Handel der Russen, die mit Hilfe deutscher Fuhrleute ihre Waren nach Riga transportieren ließen und W. als Zwischenstation nutzten. 1479 gab es eventuell eine Niederlassung Nowgoroder und Pleskauer Kaufleute, zudem soll W. zeitweise nach späteren glaubwürdigen Quellen Stapelplatz für Salz und Heringe aus dem Westen, Wachs und Pelzwerk aus dem Osten gewesen sein. Das Stapelrecht wurde noch vor Ausbruch des Krieges 1558 aufgehoben.

Mit der Niederlassung des Ordensmeisters in W. kamen Hofpersonal und adlige Räte in die Stadt. Einige Male wurden Kanzleiangehörige für geleistete Dienste mit Häusern belehnt, zuweilen mit der Pflicht zur Beherbergung von Amtsträgern des Ordens oder ausländischen Gesandten, so die Ordenskanzler, der Wundarzt und dessen Dolmetscher (dieser war später W.er Ratsherr). Auch adlige Familien (Freudenberg, Plettenberg) erhielten Güter in und um die Stadt.

(3) Zu Anfang des 13. Jahrhunderts wurde der Volksstamm der Wenden missioniert. 1225 erschien der Legat Bischof Wilhelm von Modena in W. und wurde ehrfurchtsvoll empfangen. Pfarrkirche wurde die zwischen 1283 und 1287 von Ordensmeister Wilhelm von Nindorf mit dem Erzbischof von Riga errichtete St. Johanniskirche. Mehrere W.er Ratsfamilien tätigten wie die Schoddorps in den 1440er Jahren Stiftungen. Die Kirche diente den Ordensmeistern seit Johann Freitag von Loringhoven (1483/85–1494) als Grablege.

Die Bürgerschaft ging auf Antrieb des Priesters Bernhard Brüggemann 1524/25 zur Reformation über. Dieser war wegen seiner pro-lutherischen Haltung vom Rigaer Erzbischof Johann Blankenfeld aus dessen Residenzstadt Kokenhusen vertrieben worden und hatte von Ordensmeister Wolter von Plettenberg (1494–1535) die Erlaubnis erhalten, im W.er Münzturm (vermutlich dem Turm über der zur Katharinenkapelle führenden Katharinenpforte) zu predigen. Die Katharinenkapelle wurde Zentrum der neuen evangelischen Gemeinde, während der katholische Klerus den Kultus vernachlässigte. Spätestens seit 1525 hatte sich die lutherische Lehre durchgesetzt. Der 1537 als Kirchherr und Pastor zu Wenden erwähnte Johannes Snelle oder sein mutmaßlicher gleichnamiger Sohn veranlasste 1554 die Drucklegung des lutherischen Katechismus in estnischer Sprache in Lübeck.

(4) Die Stadt schmiegte sich südlich der Burg an. Im 14. Jahrhundert wurde sie durch eine Mauer mit vier Pforten, u. a. der Ronneburgschen, der Rigischen und der Katharinenpforte, und drei Türmen umgeben. Der Stadt war eine Vorstadt vorgelagert, deren hölzerne Häuser alle Anfang 1558 zu Beginn des Livländischen Kriegs auf Befehl des Ordensmeisters abgebrochen wurden. Über kommunale Bauten wie ein Rathaus ist nichts bekannt.

(5) W. zählte mit Pernau, Narva, Fellin und Wolmar zu den »kleinen Städten« Livlands, die sich in den »Schutz und Schirm« der drei großen Städte, Riga, Reval und Dorpat begeben hatten in der Erwartung, in den Genuss derselben Rechte zu kommen, wie sie die großen Städte von ihren Landesherren erstritten hatten. W. war nachweisbar seit der Mitte des 14. Jahrhunderts an Verhandlungen über hansische Angelegenheiten beteiligt, so 1352, als ein Ratmann aus Visby eine Gesandtschaftsreise durch Livland unternahm, um mit Riga, W., Roop, Wolmar und Dorpat die Stellung des deutschen Kaufmanns in Flandern zu erörtern. W. beteiligte sich an hansischen Verträgen oder stützte hansische Maßnahmen mit finanziellen Hilfsleistungen, wobei es öfter den Rat von Riga mit der Wahrnehmung seiner Vertretung auf den Hansetagen beauftragte (so 1365 und 1369 in der Auseinandersetzung der Hanse mit König Waldemar IV. Atterdag von Dänemark, 1427 Gesandtschaft nach Lübeck); 1391 gab es ein Treffen hansischer Gesandten in W. wegen Problemen bei der Novgorodfahrt.

Einige Land- und Städtetage Livlands fanden im 15. und 16. Jahrhundert in W. im Ordensschloss statt, die meisten allerdings im nördlich benachbarten Wolmar. Im 15. Jahrhundert nahmen durchgängig zwei Vertreter W.s (vielfach ein Bürgermeister und ein Ratmann) an zahlreichen livländischen Städtetagen teil, ungefähr gleich häufig wie Wolmar und Pernau. An außenpolitischen Handlungen des Ordens war Wenden fast gar nicht beteiligt; zu den seltenen Ausnahmen gehört das Bündnis des Deutschen Ordens in Preußen mit Litauen, das auf Verlangen des Hochmeisters Paul von Rusdorf 1432 auch von fünf livländischen Ordensstädten, darunter Wenden, besiegelt wurde.

(6) W. verdankt seinen Aufstieg zur herausragenden Ordensburg und zur Residenz des Livländischen Landmeisters seiner Lage in der Mitte des spätmittelalterlichen Livland. W. lag in einer Region, in der mehrere Burgen als bedeutende Aufenthalts- und Versammlungsstätten der beiden wichtigsten Landesherren, des Ordensmeisters und des Rigaer Ebf.s, dicht beieinander lagen. W. wurde zudem begünstigt durch seine relative Nähe zur gewichtigsten Stadt Livlands, Riga, wo der Ordensmeister seit 1330 seinen Aufenthaltsort hatte. W. diente ihm im 15. Jahrhundert als fester, von keinem Gegner zu beeinträchtigender Rückhalt, wohin er auswich, wenn die Lage in Riga durch den Druck der feindseligen Geistlichkeit und Bürgerschaft allzu bedrohlich erschien. Der Verlust Rigas in den letzten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts machten aus dem Ausweichquartier W. die Erst- oder Hauptresidenz des Meisters, von wo aus er fortan das livländische Ordensterritorium regierte. Residenzstadt war W. dann bis 1561.

W. vermochte sich nie dem Übergewicht des Ordens zu entziehen. Dazu war sein wirtschaftliches und finanzielles Potential zu klein. Immerhin reichten die aus Handel und Handwerk gewonnenen Kräfte dazu aus, W. den Rang einer »kleinen Stadt« innerhalb des Ordenslandes und Livlands zu verschaffen. Alle Anzeichen wie bspw. die häufige Beteiligung an den livländischen Städtetagen deuten darauf hin, dass W. der Spitzengruppe der kleinen Städte angehörte. Von Zerwürfnissen zwischen der W.er Bürgerschaft und dem Meister verlautet in den Quellen nichts. Der Meister konnte auf Liegenschaften innerhalb und außerhalb der Stadt zurückgreifen, um sein Hofpersonal zu versorgen, und konnte sich anscheinend ferner darauf verlassen, dass die Bürgerschaft sich seinem Regiment unterstellte. Auch nach Untergang der Ordensherrschaft behielt W. zentrale Funktionen im polnisch-litauischen Reich (Bf.ssitz ab 1582).

(7) Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, I, Bde. 1–12 (1853–1910); II, Bde. 1–3 (1900–1914). – Akten und Rezesse der livländischen Ständetage, 3 Bde., hg. von Oskar Stavenhagen, bearb. von Leonid Arbusow d. Ä. und Albert Bauer, Riga 1907–1938. – Livländische Güterurkunden (1908–1923). – Renner, Johannes, Livländische Historien 1556–1561, Lübeck 1953 (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Lübeck, Neue Reihe, 2). – Heinrici Chronicon Livoniae. Heinrichs Livländische Chronik, bearb. von Leonid Arbusow (†) und Albert Bauer, Hannover 21955 (Scriptores rerum Germanicarum). – Herzog Albrecht von Preußen und Livland (1996–2008).

(8) Chronologie der Ordensmeister über Livland, der Erzbischöfe von Riga und der Bischöfe von Leal, Oesel-Wiek, Reval und Dorpat, hg. von Philipp Schwartz, Riga u. a. 1879. – Schwartz, Philipp: Wenden, ein Stapelplatz für den russischen Handel, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Russlands aus dem Jahre 1896, Riga 1897, S. 4–8. – Mettig, Constantin: Baltische Städte, Riga 21905 (ND Hannover-Döhren 1990), S. 115–129. – Löwis of Menar, Karl von: Burgenlexikon für Alt-Livland, Riga 1922, S. 122–124 (mit Nachweis von Plänen und Ansichten des 17. bis 19. Jhs.), 129, Abb. 70–71. – Ligers, Ziedonis: Geschichte der baltischen Städte, Bern 1948, S. 196–204. – Baltisches historisches Ortslexikon, Bd. 2: Lettland (1990), S. 690–693 (Lit.). – Neitmann, Klaus: Die Residenzen des livländischen Ordensmeisters in Riga und Wenden im 15. Jahrhundert, in: Stadt und Orden. Das Verhältnis des Deutschen Ordens zu den Städten in Livland, Preußen und im Deutschen Reich, hg. von Udo Arnold, Marburg 1993, S. 59–93. – Mugurevics, Evalds, Dumschat, Sabine: Art. „Wenden“, in: LexMa VIII, 1998, Sp. 2182 f. (Lit.) – Neitmann, Klaus: Rat und Ratsgebietiger Wolters von Plettenberg. Beobachtungen zum Regierungs- und Verwaltungsstil des Ordensmeisters, in: Wolter von Plettenberg und das mittelalterliche Livland, hg. von Norbert Angermann und Ilgvars Misans, Lüneburg 2001, S. 85–111. – Neitmann, Klaus: Art. „Wenden“, in: Höfe und Residenzen I,2 (2003), S. 618–621.

Klaus Neitmann