Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Gifhorn

Gifhorn

(1) Auf einer Art Sporn, der in das Allertal hineinragt, entwickelte sich in der Gabelung der Flüsse Ise und Aller der Flecken G. Im Mündungsbereich der Ise war der Allerübergang für den Fernverkehr möglich zwischen Frankfurt am Main und der Ostsee und der Salzstraße zwischen Braunschweig und Lüneburg (und im Hochmittelalter weiter nach Bardowiek). Bedeutung erlangte zudem die Kornstraße zwischen Helmstedt und Celle.

Eine frühe Lehnsunabhängigkeit des Fleckens vom Stift Gandersheim ist wahrscheinlich, aber erst für die Jahre 1419 und 1429 gesichert, in denen Äbtissin Lutgardis den Herzog von Braunschweig-Lüneburg mit G. belehnte. Der Flecken war im Zuge zahlreicher Kriege und Landesteilungen der Welfen häufig verpfändet worden. Die Teilung des Hzm.s 1269 bedingte eine Grenzziehung zwischen Celle im lüneburgischen und G. im braunschweigischen Teil, G. wurde jedoch später zu einem ungeklärten Zeitpunkt an das Fürstentum Lüneburg abgetreten. In dem wegen der ungeklärten Nachfolge nach dem Tod Herzog Wilhelms 1369 ausbrechenden Lüneburger Erbfolgekrieg stand G. an der Seite der Welfen gegen den Herzog von Sachsen-Wittenberg. 1388 konnten die Herzöge der Braunschweiger Linie den Krieg für sich entscheiden, Bernhard und Heinrich erhielten das Fürstentum Lüneburg, ihr Bruder Friedrich das Fürstentum Braunschweig, dem G. zugeschlagen wurde. Nach der Ermordung Friedrichs regierten seine Brüder das Herzogtum zunächst gemeinsam, bis sie 1409 eine Teilung vornahmen, bei der G. in den lüneburgischen Teil unter Herzog Heinrich gelangte. Friedrichs Witwe, Herzogin Anna, durfte ihre Leibzuchtsrechte an G. auf Lebenszeit behalten. Sie bezog nach dem Tod ihres Gatten für einige Jahre das G.er Schloss.

Bei der erneuten Teilung der welfischen Lande 1428 blieb G. im Fürstentum Lüneburg, das hinfort von dem von Bernhard begründeten sog. Mittleren Haus regiert wurde. Sowohl Schloss als auch Weichbild G. wurden 1433 den Söhnen Bernhards, Friedrich und Otto, vertraglich zugesprochen. Die territoriale Zugehörigkeit zu Lüneburg blieb bis zum Jahre 1705 bestehen. 1520 wurde G. unter Herzog Ernst dem Bekenner zur Außenstelle der Celler Verwaltung. Eine zwischenzeitliche Abfindung des Bruders Ernst des Bekenners, Herzog Franz, mit dem Herzogtum Gifhorn im Jahre 1539 war formal nicht als Teilung, sondern als Apanagierung anzusehen. Zehn Jahre lang regierte Franz die Ämter G., Fallersleben und das Kloster Isenhagen eigenständig, ohne vollständige landesherrliche Rechte zu haben. Dennoch schuf er einen repräsentativen Hof samt Kanzler und Hofrat. 1549 verlor G. seinen Status als Residenz, da Franz keinen männlichen Erben hinterließ. Von 1705 bis 1803 gehörte der Ort zum Kfsm. Hannover.

(2) Erstmals findet G. in Verbindung mit der Zahlung eines Geldzinses 1196/97 in einer Urkunde des Stifts St. Cyriakus Erwähnung, bald darauf in der Schenkungsurkunde Kaiser Ottos IV. für die Scheverlingenburg 1213. 1275 verlieh Herzog Johann das Marktrecht. Der Marktflecken wurde frühzeitig durch Befestigungen geschützt (1332 als opidum bezeichnet). 1364 hatte G. das Weichbildrecht inne, mit dem Privilegien wie die städtische Verwaltung durch Bürgermeister und Rat einhergingen. Während der frühen Neuzeit galt der Ort nicht als städtisch, erst 1815 wurde G. als kleinere Stadt bezeichnet.

Dass G. den Schnittpunkt zweier wichtiger Handelsrouten in Norddeutschland bildete, bestimmte die weitere Entwicklung. G. soll im Spätmittelalter als Rastort genutzt worden sein. Auf der Straße Braunschweig-Lüneburg bildete der Flecken eine ideale Zwischenstation, da er von Braunschweig 27 km entfernt lag, was einer Tagesreise eines Frachtfuhrwerks entsprach. Der Fernverkehr bedingte die Ansiedlung von Frachtfuhrleuten und förderte die Etablierung von Handwerken wie Schuster, Schneider, Schmiede, Bierbrauer, Bäcker, Fischer und Schlachter. Als 1733/34 auswärtige Handwerker am neuen Turm der Pfarrkirche arbeiteten, beschwerten sich die G.er Zimmerleute mit Erfolg beim Kurfürsten Zur Gewerbestruktur zählen die Mühlen, von denen die in fsl.em Besitz befindliche Cardenapmühle bereits 1213 erwähnt wird. Da sie um 1500 nicht mehr in landesherrlichem Besitz war, wurde für die Bewirtschaftung des Schlosses die Sandmühle errichtet. Die Cardenapmühle fiel wohl erst 1528 wieder dem Fürsten zu. Auch eine Windmühle vor der Stadt zählte 1619 zur Vogtei G. Zu Zeiten der Anwesenheit des Hofs entstand 1545 auf Bestreben des Hzg.s eine Krugwirtschaft, die als Herberge diente.

Verwaltungssitz war G. seit 1264, als ein Vogt erwähnt wird (ab 1431 als Amtmänner bezeichnet). Im Spätmittelalter immer wieder verpfändet, wurde seit 1564 ein landesherrlicher Amtmann zur Wahrung herrschaftlicher Rechte eingesetzt, der hinfort neben dem Schlosshauptmann amtierte.

1544 erließ Herzog Franz eine Art Gemeinde- und Gewerbeverordnung für seine Ämter, mit der er Bürgermeisterwahl, Feuerschutz, Straßenreinigung, Marktpreise, Holznutzung und Wachdienste regelte. In die inneren Angelegenheiten G.s griff Franz ein, indem er im selben Jahr den umstrittenen ersten Bürgermeister austauschte, dem Vetternwirtschaft vorgeworfen wurde. Der G.er Rat besaß nur eine eingeschränkte Selbstverwaltung, er unterlag der generellen Weisungsbefugnis des Amtmannes. Der Rat agierte bei Eintragungen in das Ratsbuch, schloss im beschränkten Maße Verträge ab und verlieh darüber hinaus das Bürgerrecht. Nur wenigen Familien stand die Ratsmitgliedschaft offen, bei der es zu Überschneidungen mit landesherrlichen Funktionen kam, wie im Falle Herrmann Hollands deutlich wird, der neben seiner Tätigkeit als Amtmann seit 1564 zeitweise auch Mitglied des Magistrats war. Die Stadt hatte keine eigene Gerichtsbarkeit und war lediglich berechtigt, ihre Bürger zum Einlager zu verpflichten. Landgerichtstagungen fanden nur dreimal pro Jahr statt.

Das Bürgerrecht konnte nur erlangen, wer ein Grundstück besaß und dieses bewohnte; zur Miete wohnenden Einwohnern war dies verwehrt. Pflichten waren die jährliche Zahlung der Steuer, Ausbesserungsarbeiten an Wegen und Gräben, die Unterhaltung von Hirten und Wachdienste. Auch Abgaben an die Vogtei-, Grund-, Zehnt- und Gerichtsherrschaft waren zu leisten, in der frühen Neuzeit in der Hand des Landesherrn vereinigt, hinzu kam der Amtszins. Seit 1520 übernahm der Schlosshauptmann von den Vögten bzw. Amtmännern die Eintreibung der Schutzgebühr. Für die Nutzung der in Händen der Fürsten befindlichen Gemeinheiten hatte die Stadt den Viehschatz, die Hausbesitzer für ihre Grundstücke jährlich ein Rauchhuhn zu entrichten. Befreit waren die Grundstücke der Bürgermeister, Geistlichen und deren Witwen, der Ratswaage und des Hausvogts (wohl des Schlosshauptmanns). Auch die Unterhaltung des umfangreichen niederen Amtsgesindes musste sichergestellt werden. 1646/47 kam mit dem Schutzgeld der Häuslinge eine neue Abgabe hinzu.

1628 gab es 215 kontributionspflichtige Einwohner, von denen 14 Häuslinge waren, was auf ungefähr 1000 Einwohner schließen lässt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, von dem G. weitestgehend verschont blieb, lag die Einwohnerzahl bei 700 bis 800, 1712 wieder bei etwa 1000. 1669 zerstörte ein Brand 106 Gebäude, das Rauchhuhnregister von 1683 nennt 68 wüst liegende und neun von der Abgabe befreite Grundstücke.

(3) Die Pfarrkirche St. Nicolai lag ursprünglich weiter nordöstlich. Das Patronat hatten die Landesherren inne (belegt 1388 und 1400). Im Lüneburger Erbfolgekrieg wurde 1381 der Kirchturm zerstört. Ausgestattet wurde die Kirche durch eine Altarstiftung Herzogin Annas 1418. Herzog Otto bestätigte 1468 zwei Memorienstiftungen seiner Tante Elisabeth von Everstein. 1519 wurde die Kirche ebenso wie ein Großteil des Ortes Opfer von Brandschatzungen in der Hildesheimer Stiftsfehde. Herzog Franz ließ um 1540 eine Ersatzkirche schaffen, indem Kornspeicher und Marstall umgebaut wurden. 1716 stürzte der Turm dieses Notbehelfs ein, 1737 wurde die Kirche abgerissen. 1733/34 wurde etwas nördlicher mit dem Neubau einer Kirche begonnen, Fertigstellung 1744. In der Nähe der Stadtmauer wurde durch den Abt des Klosters Mariental 1382 die durch Eberhard und Konrad von Marenholtz errichtete Kapelle St. Georg geweiht. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert gab es einen Kaland, dessen Mitglieder karitativ tätig waren, und der über Grundbesitz verfügte. Jüdisches Leben ist für das 18. Jahrhundert nachgewiesen.

Die Zuständigkeit des Archidiakonats Meine für St. Nicolai wurde in der Reformation beendet, da Herzog Ernst der Bekenner die erste Pfarrstelle mit der Superintendentur verknüpfte. Als Reformationsfürst tat sich Herzog Franz hervor: Er gründete eine Lateinschule und setzte 1547 mit dem Bau der Schlosskapelle, des ersten evangelischen Kirchenneubaus Nordwestdeutschlands, »dem Protestantismus ein frühes Denkmal« (Eichstädt 1996, S. 112).

(4) Für 1296 wird eine Burg erwähnt, deren Lage jedoch unbekannt bleibt, da sie 1519 zerstört wurde. 1525 begann der Neubau des Schlosses am Südostrand des Exberges, ab 1539 durch den Celler Schloss- und Festungsbauer Michael Clare fortgesetzt, der auch für Kavalierhaus und Schlosskapelle verantwortlich war. Während der kurhannoverschen Landesaufnahme zwischen 1764 und 1786 wurde ein farbiger Grundriss der Stadt angefertigt (im Hauptstaatsarchiv Hannover). Das Kavalierhaus diente als Wohnhaus für den ehemaligen Schlosshauptmann Caspar von Leipzig. Es entstand am Steinweg, der ältesten Straße G.s, die bereits vor 1350 gepflastert war.

1562 wurde am Steinweg das Rathaus gebaut, das womöglich zwei Vorgänger hatte, deren Fundamente 1909 bei Bauarbeiten entdeckt wurden. Kunstgeschichtlich bedeutsam ist der Fachwerkbau mit seinen breiten Giebel- und Seitenfronten wegen der vielgestaltigen Schnitzereien an Schwellen, Balkenköpfen und Füllhölzern, die u. a. das Stadtwappen mit dem welfischen Löwen und einem Jagdhorn (wohl als Hinweis auf den Ortsnamen) zeigen. 1682 wurde ein leerstehendes Bürgerhaus für die neue Ratswaage umgenutzt.

(5) Die Allmende bildete den Großteil der städtischen Gemarkung. Nach der Einrichtung des Amtes G. musste für die Nutzung der Wiesen ein Wiesenzins als Teil des Amtszinses gezahlt werden. G. konnte seine Bedeutung 1643 mit der Einrichtung einer Poststation im etwa sieben Kilometer nördlich gelegenen Ort Gamsen erweitern. Der minderstädtische Status G.s blieb allerdings erhalten. Es gab keine Beteiligung an Landtagen. Auch die kurze Zeit als Residenzstadt des Hzm.s G. führte nicht zu einer größeren politischen Bedeutung, da Herzog Franz keine Stimme im Reichsfürstenrat besaß und ihm Bündnisse und Verträge mit anderen Fürsten verwehrt waren.

(6) Im Mittelalter zumeist als Pfandgut genutzt, hatte der Flecken seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung vor allem der Lage an der viel genutzten Fernverkehrsstraße zu verdanken. Selten beherbergte das Schloss einen fürstlichen Bewohner. Nach 1400 diente G. als Witwensitz, 1529 als Zufluchtsort des Celler Hofs, der dem »englischen Schweiß« (Streich 2008, S. 26) auswich, und von 1539 bis 1549 als Residenz unter Herzog Franz. Er sorgte für Neuerungen in der Kirchenpolitik, Bildung, Architektur und bei der Ordnung der Amts- und Stadtverwaltung. Der residenzstädtische Charakter kommt darin zum Ausdruck, dass im Rathaus neben dem Rat auch das Celler Landgericht tagte und die Ratswaage sowohl von Kaufleuten als auch von landesherrlichen Zöllnern genutzt wurde. Auch wurde ein Krug eingerichtet.

(7) Ungedruckte Quellen zur Stadtgeschichte und zum Verhältnis Stadt und Landesherrschaft sind vor allem im Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Hannover zu finden: Der Urkundenbestand Celle Or. 9, der Aktenbestand Hann. 74 Gifhorn zum Amt Gifhorn, der Kopiarbestand Cop. IX, Akten zum Kirchenbau (Hann. 83 II Nr. 1878), Haushaltslisten (Hann. 51 Nr. 590) und Karten (Kartensammlung Nr. 32 f Gifhorn). Im Stadtarchiv Gifhorn liegen die Kopfsteuerrolle (GIF-A-044/6) und das Erbschatzbuch (GIF-A-044/7).

Roshop, Ulrich: Das Gifhorner Ratsbuch, Bd. I (1413–1545), Gifhorn 1985. – Schneidmüller, Bernd: Welfische Kollegiatstifte und Stadtentstehung im hochmittelalterlichen Braunschweig, in: Rat und Verfassung im mittelalterlichen Braunschweig. Festschrift zum 600jährigen Bestehen der Ratsverfassung 1386–1986, hg. von Manfred R. W. Garzmann, Braunschweig 1986 (Braunschweiger Werkstücke, 64), S. 253–315. – Bosse, Theo: Das Gifhorner Ratsbuch, Bd. II (1557–1594), Adenbüttel 1989.

(8)Oberbeck, Gerhard: Die mittelalterliche Kulturlandschaft des Gebietes um Gifhorn, Bremen 1957 (Schriften der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft zum Studium Niedersachsens e. V., 66). – Roshop, Ulrich: Die St.-Nicolai-Kirche in Gifhorn. Eine bau- und kunstgeschichtliche Darstellung, Gifhorn 1980. – Roshop, Ulrich: Gifhorn. Das Werden und Wachsen einer Stadt, Gifhorn 1982. – Roshop, Ulrich: Die früheren Rathäuser der Stadt Gifhorn, in: Stadtgeschichtliche Betrachtungen, hg. von der Stadt Gifhorn, Gifhorn 1984, S. 3–17. – Pischke, Gudrun: Die Landesteilungen der Welfen im Mittelalter, Hildesheim 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen, 24). – Eichstädt, Ingrid, Conrad, Jürgen, Wintzingerode-Knorr, Karl-Wilhelm von: Die Geschichte des Raumes Gifhorn-Wolfsburg, Gifhorn 1996 (Heimatkundliche Schriftenreihe der Sparkasse Gifhorn-Wolfsburg, 12). – Rund, Jürgen: Geschichtliches Ortsverzeichnis des Landkreises Gifhorn, Hannover 1996 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 30. Geschichtliches Ortsverzeichnis von Niedersachsen, 5). – Streich, Brigitte: Herzog Franz von Gifhorn und seine Familie, in: Franz von Gifhorn. Auf den Spuren eines Reformationsfürsten, hg. vom Museums- und Heimatverein Gifhorn e. V., Gifhorn 2008, S. 7–34.

Markus Vollrath