Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Bremervörde

Bremervörde

(1) Das Elbe-Weser-Dreieck wird durch die breite Osteniederung und das ausgedehnte Teufelsmoor in zwei Hälften geteilt, die im Frühmittelalter nur an einer Stelle miteinander verbunden waren. Bei dem heutigen B. reichen natürliche Geestzungen bis an die Oste heran, und der Fluss konnte hier mittels einer Furt durchquert werden.

An der verkehrsgünstig, zudem im geographischen Zentrum des Elbe-Weser-Dreiecks gelegenen Stelle wurde um das Jahr 1000 eine Wasserburg angelegt. Zwischen 1111 und 1122 errichtete der Sachsenhzg. Lothar von Süpplingenburg eine zweite Burg in wenigen hundert Metern Entfernung vom Osteufer, die nach der Furt Vorde oder Vorden benannt wurde. Nachdem diese Wasserburg im 12. Jahrhundert im Besitz der Welfen war, gelangte sie 1218 in die Hände der Erzbischöfe von Bremen, die das Erzstift Bremen zu einem Territorium ausbildeten, das sich um 1500 in etwa mit dem Elbe-Weser-Dreieck deckte. In Auseinandersetzung mit der nach Unabhängigkeit strebenden Stadt Bremen nahmen die Erzbischöfe bereits im 13. Jahrhundert häufig ihren Sitz auf der mitten in ihrem Erzstift gelegenen Burg Vörde. Spätestens im 15. Jahrhundert war sie ihre dauerhafte Residenz sowie Sitz von Regierung und Verwaltung des Erzstifts und des landesherrlichen Amtes Vörde. Dabei wurde die Burg laufend vergrößert, verstärkt und insbesondere in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einem Schloss ausgebaut. 1471 wurde sie mit einem Wall umgeben. Bis zur Eroberung des Erzstifts durch Schweden im Jahre 1645 diente das seit etwa 1580 B. genannte und zu einer Festung erweiterte Schloss den Fürstebf.en von Bremen als Hauptburg und Residenz. 1603 wurde es durch einen Brand zerstört und neu aufgebaut, in den Kampfhandlungen des Dreißigjährigen Krieges wieder schwer beschädigt. Nach der Säkularisierung des Erzstifts Bremen 1648 und der Verlegung der Regierungsbehörden nach Stade besaß der General Carl Gustav Wrangel als Donatar der schwedischen Krone das Schloss, das bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts das Gepränge einer fsl.en Residenz behielt. Auf Geheiß des schwedischen Kg.s Karl XI. wurde das Hauptschloss ab 1682 abgebrochen und die Festung geschleift. Lediglich die Kanzlei- und Marstallgebäude blieben verschont.

(2) Vor den breiten Wassergräben entstand in unmittelbarer Nähe der Burg ein Suburbium, dessen Bewohner – vor allem wohl Gewerbetreibende, Gastwirte und Fuhrleute – von der verkehrsgünstigen Lage des Ortes profitierten. Im Spätmittelalter war der Ort Vörde mit einer eigenen Pfarrkirche, Gebäuden des Bremer Domkapitels sowie Wohnhöfen der erzstiftisch-bremischen Ritterschaft versehen. Im Sommer 1312 wurde die Stadt (opidum) von Gegnern des Ebf.s zerstört. Auch in der Folgezeit litt die Siedlung oft unter kriegerischen Auseinandersetzungen, so 1432 und 1547. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde der Ort zweimal – 1627 und 1646 – völlig zerstört und anschließend in größerer Entfernung vom Schloss mit planmäßigem Grundriss komplett neu angelegt.

Die unmittelbare geographische Nähe führte zu mannigfachen symbiotischen Verbindungen zwischen Residenz und Stadt; sie sollte sich jedoch bei der zweimaligen Zerstörung der Siedlung während des Dreißigjährigen Krieges auch als verhängnisvoll erweisen. 1646 wurde der Flecken von der dänischen Festungsbesatzung in Brand gesetzt, um ein freies Schussfeld gegen die schwedischen Belagerer zu haben. Eine demographische Entwicklung kann aufgrund mangelnder Quellen nicht nachgezeichnet werden. Wahrscheinlich hatte der wirtschaftlich blühende Flecken vor dem Dreißigjährigen Krieg etwa 1500 bis 1700 Einwohner.

Wegen der völligen Destruktion des Ortes kann dessen Grundriss vor dem Dreißigjährigen Krieg nur sehr vage rekonstruiert werden. Auf einer Vogelschau von 1653 wird er nur mit schemenhaft erkennbaren Straßenzügen und dem Vermerk Ruinirte Heuser von der Statt, So der Vestung zu nahe gelegen, angedeutet. Nach 1646 wurde der Flecken weiter westlich und in einiger Entfernung vom Schloss neu errichtet. Die planmäßig angelegten, parallel in West-Ost-Richtung verlaufenden Hauptstraßen (Alte Straße und Neue Straße) wurden durch drei Querstraßen (die heutige Kirchenstraße, Brunnenstraße sowie Ritterstraße) miteinander verbunden.

Die Fleckensbürger waren persönlich frei und gaben der Landesherrschaft für ihr Hausgrundstück ein jährliches Wurtgeld. Die Bewohner, die Land in der Feldmark bewirtschafteten, genossen hinsichtlich der an den Erzbischof als Grundherrn abzuführenden Zehnten und Zinse Vergünstigungen gegenüber den erzstiftischen Meiern in den umliegenden Dörfern.

Der Landesherr war unumschränkter Stadtherr B.s. Wohl um 1300 verlieh Erzbischof Giselbert von Brunkhorst dem Ort Stadtrecht und Stadtsiegel; der überlieferte Stadtrechtskodex ist stark an das Hamburger Stadtrecht angelehnt. Das Siegel ist für 1388 erstmalig bezeugt. Rechtlich wurde B. allerdings keine Vollstadt, sondern blieb bis 1852 eine Minderstadt mit der Verfassung eines Fleckens oder Weichbildes ohne Landstandschaft. Bereits im 14. Jahrhundert stand dem Ort ein Rat vor. Die Vertreter der Bürgerschaft wurden als Bürgermeister, Gerichts- oder Ratsherren bezeichnet. Im 17. Jahrhundert lagen die Verwaltung des Fleckens sowie die niedere Gerichtsbarkeit in den Händen von bis zu sechs Bürgermeistern oder Richteherren. Die höhere Gerichtsbarkeit wurde vom landesherrlichen Amtmann ausgeübt.

Die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Hof und Stadtbewohnern waren eng. So wohnte ein Großteil des Schlosspersonals im nahegelegenen Flecken. 1634 etwa betrieben einer der ebfl.en Wildschützen und der Kammerbote dort einen Bierausschank. Die Hofküche wurde mit Erzeugnissen des Fleckens und der Dörfer des Umlandes beliefert. 1567 kaufte die Schlossverwaltung Bier bei Fleckensbürgern ein. Dienstleistungen wurden von B.er Handwerkern gegen Lohn durchgeführt (so 1567 ein Glasmacher für die Reparatur von Fenstern). Im Gegenzug vermarktete die Schlossherrschaft Lebensmittel wie Getreide oder tierische Produkte, die aus den Zinsleistungen der erzstiftischen Meier bzw. aus den schlosseigenen landwirtschaftlichen Betrieben – den drei Vorwerken in B., Horn und Bredemehe – stammten oder wie 1634 nachweislich auch Gewächse aus den Schlossgärten.

B. erhielt erst spät Marktfunktion. 1582 wurde der Himmelfahrtsjahrmarkt von Bevern nach B. verlegt. Bereits 1404 schlossen sich die Schneider und Schuster zu einer Zunft (hier Amt) zusammen, die der Aufsicht des Rates unterstand. Dass zunftfremde Soldaten aus der Festungsbesatzung dem Schneider- und Schusterhandwerk nachgingen, konnte sie nicht verhindern. Das Schmiedeamt wurde 1637 gegründet.

Durch die zahlreichen Belagerungen und Zerstörungen, die Verlegung des Regierungssitzes nach Stade sowie die Verlagerung der Verkehrsströme erfuhr der Ort seit dem Dreißigjährigen Krieg einen steten wirtschaftlichen und demographischen Niedergang. Das einst lukrative Gewerbe trat hinter der Landwirtschaft zurück.

(3) Die Pfarrkirche wird 1282 erstmals urkundlich erwähnt. Eine Schule, die dieser Kirche angeschlossen war, wird für das Jahr 1348 bezeugt, als der Burgvogt Hinrich von Issendorff eine Geld- und Kornrente für die Baukasse und das Personal der dem Hl. Liborius geweihten Kirche sowie für die Ortsarmen stiftete. 1435 gab es in der Pfarrkirche, in der sich auch die Erbbegräbnisse der adligen Burgmannen befanden, sechs Altarstiftungen. Am Ende des 15. Jahrhunderts bestanden vier Bruderschaften, von denen sich besonders die St.-Gertruden-Gilde um die Armen- und Krankenpflege gekümmert haben dürfte, denn das um 1500 von Erzbischof Johann Rode gestiftete Hospital zum Heiligen Kreuz, das Fürstebf. Heinrich von Sachsen-Lauenburg 1576 erneuern ließ, wurde auch als »St. Gertruden« bezeichnet. Im Flecken Vörde wurde wahrscheinlich spätestens 1535 die lutherische Reformation durchgeführt. Die Fleckensgemeinde befand sich damit in einem Gegensatz zum streng katholischen Erzbischof Christoph von Braunschweig-Wolfenbüttel. Erst mit dem Regierungsantritt des lutherischen Fürstebf.s Heinrich von Sachsen-Lauenburg 1567 war das religiöse Bekenntnis in Schlosskirche und Fleckenskirche wieder identisch. Die Gemeinde erhielt 1582 eine landesherrliche Kirchenordnung.

Die Pfarrkirche in unmittelbarer Nähe des Schlosses wurde 1627 mitsamt dem Flecken zerstört. Der von 1630 bis 1643 entstandene Nachfolgebau fiel bereits 1646 den Flammen zum Opfer. Ab 1652 wurde die jetzige St.-Liborius-Kirche an anderem Ort neu errichtet.

(4) Die ältesten noch bestehenden Gebäude sind die Kanzlei und der Marstall des Schlosses aus der Zeit um 1608 sowie die St.-Liboriuskirche von 1652. Weitere Monumente oder architektonische Zeugnisse sind aus der Zeit, in der B. Residenzort war, nicht mehr vorhanden. Ein Rathaus wurde erst um 1600 vom Rat angemietet. Durch die Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg haben wir von älteren architektonischen Zeugnissen so gut wie keine Kenntnis. Die beiden frühesten bildlichen Darstellungen B.s stammen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.

(5) Die erste urkundliche Erwähnung B.s 1225 betrifft den Zoll an der Fernhandelsstraße, von dem die Bürger Bremens befreit wurden. Der dem Erzbischof zukommende Zoll dürfte beträchtlich gewesen sein. In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden etwa 30.000 Ochsen pro Jahr in B. verzollt. Die städtische Wirtschaft profitierte zweifelsohne von dem Aufenthalt von Handelsleuten im Ort. Wegen der Dominanz des Landesherrn verfügte die Stadt im Umland über keine eigenen Gerechtsamen. Hingegen waren die ökonomischen Verflechtungen mit den Dörfern des Umlands eng. Die Ziegel für den Bau von Schlossgebäuden, aber auch für Bauten im Flecken stammten aus der ebfl.en Ziegelei in Bevern. Luxusgüter wie etwa Frischkäse aus Groningen, Pfeffer, Safran oder Nelken bezog der B.er Hof 1567 auf dem Jakobimarkt in Stade. Verbindungen der B.er Bewohner zu den Märkten sind quellenmäßig nur schwer zu erfassen. Folglich war das ökonomische Netz zur weiteren Umgebung vermutlich eher weitmaschig gespannt.

(6) Da der Bremer Erzbischof unumschränkter Stadtherr war, konnte er tiefe Eingriffe in Verfassung, Verwaltung und Politik des Fleckens vornehmen. Die Autonomie des Stadtregiments war nur sehr schwach ausgeprägt. Symptomatisch für das hierarchische Verhältnis zwischen Landesherrn und Stadtrat waren etwa die 1504 von Erzbischof Johann Rode gegen die angeblich nachlässige Regierung der Gerichtsherren erlassenen scharfen Verordnungen, die u. a. ausschweifende Festlichkeiten der Gilden anprangerten.

(7) Archivalische Quellen befinden sich im Niedersächsischen Landesarchiv – Standort Stade, Rep. 5 b: Akten der erzbischöflichen Zeit; Rep. 76: Amtsregister des 16. und 17. Jahrhunderts.

Bachmann, Elfriede: Ein Kopfsteuerverzeichnis des Fleckens Bremervörde aus dem Jahre 1634, in: Rotenburger Schriften 53 (1980) S. 107–125. – Bachmann, Elfriede: Das Bremervörder Kirchenstuhlregister von 1642/43, in: Stader Jahrbuch (2001/2002) S. 79–132. – Der mittelalterliche Bremervörder Stadtrechtskodex, bearb. von Reinhard Scheelje, Stade 2009 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, 34).

(8)Schleif, Karl H.: Regierung und Verwaltung des Erzstifts Bremen am Beginn der Neuzeit (1500– 1645), Hamburg 1972 (Schriftenreihe des Landschaftsverbands Stade, 1). – Bachmann, Elfriede: Von den Anfängen bis 1866, in: Bremervörde. Bilder aus der Geschichte einer Stadt, hg. von der Stadt Bremervörde, Bremervörde 1987, S. 9–129. – Ehrhardt, Michael: Die St.-Liborius-Kirche gestern. Vom Anfang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift 350 Jahre St.-Liborius-Kirche, hg. von der St.-Liborius-Gemeinde Bremervörde, Bremervörde 2002, S. 16–47. – Kammann, Christian: Renaissancegärten in Bremen-Verden, Stade 2012 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, 38).

MichaelEhrhardt