Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Arensburg (Kuressaare)

Arensburg (Kuressaare)

(1, 2) Die in Estland gelegene Burg A., die der sie umgebenden Stadt ihren Namen gab, wurde an einer für den Schiffsverkehr strategisch wichtigen Stelle an der Südküste der größten estnischen Insel Ösel (Saaremaa) errichtet, welche die Rigaer Bucht nach Nordwesten hin abschließt. Als die Insel Anfang des 13. Jahrhunderts von Deutschen und Dänen erobert wurde, stand an derselben Stelle bereits ein hölzerner Vorgängerbau. Hier ließen die Bischöfe von Ösel ab Mitte des 14. Jahrhunderts die größte steinerne Festung Estlands mit Schiffslandungsplatz als ihre neue Hauptresidenz errichten. Wahrscheinlich verließ der Öseler Bischof die Wiek, den Festlandteil seines Stiftes, und wählte Ösel als sicheren Rückzugsort, weil er im großen Estenaufstand 1343–1345 in seiner Residenz Hapsal (Haapsalu) von den Aufständigen belagert worden war. Während das Domkapitel an der Hapsaler Kathedralkirche mit der Grablege der Bischöfe verblieb, hielten sich die Bischöfe im Spätmittelalter zumeist in A., seltener auch in der Wiek, in Hapsal, Leal (Lihula) und Lode (Koluvere), auf.

Die A. wurde 1381 erstmals schriftlich erwähnt und in der Regierungszeit des Bf.s Winrich von Kniprode (1383–1419) fertiggestellt. Der Name leitet sich vom Adler des Evangelisten Johannes im Wappen des Öseler Bf.s ab. Sein weltliches Herrschaftsgebiet umfasste zwei Drittel der estnischen Inseln und des Festlandgebietes, der übrige Anteil am Bistum unterstand dem Deutschen Orden. Die geographische Teilung des Stiftes in Insel- und Festlandgebiet führte zu einer doppelten Verwaltungsstruktur: Es gab zwei Stiftsvögte mit je eigenen untergeordneten Amtsträgern und Kasse, einer für die Wiek mit Sitz in Hapsal, der andere für die Inseln mit Sitz auf der A. Die strategische Bedeutung der A. tritt in den Quellen immer wieder zutage; sie weckte Begehrlichkeiten sowohl bei den fortwährend auf Estland Ansprüche erhebenden Dänen als auch beim Deutschen Orden. Nachdem 1520/21 erstmals alle livländischen Bischöfe die Anerkennung als Reichsfürsten erhalten hatten, bezeichnete der Öseler Bischof die A. 1532 als »kaiserliche« Burg und einen »Schlüssel« ganz Livlands.

Ende des 14. Jahrhunderts entstand an der Burg ein gleichnamiger Marktflecken, der zunächst keine wirtschaftliche oder politische Bedeutung besaß, da das städtearme Bistum von einflussreichen Adligen geprägt war und gerade die Öseler Adligen zahlreich auf der A. selbst ansässig waren. Die hier lebenden Dienstleute waren für die Verteidigung und den Betrieb der bfl.en Burg unerlässlich und organisierten sich in der Bruderschaft der Gemeinen Stallbrüder oder Schwarzenhäupter. Daneben beheimateten die livländischen Hakelwerke Kleinhändler, Handwerker, Krüger und Ackerbürger deutscher und nicht-deutscher Herkunft. A. verfügte über einen eigenen Hafen, aber einen Seehandel in größerem Maßstab betrieb nur der Öseler Bischof So verstand es der letzte Bischof, Johann von Münchhausen (1541–1559), die Getreideerträge seiner Stifte solange auf der A. zu horten, bis er sie zu Höchstpreisen nach Holland verschiffen konnte. Erst nach dem Ende der bfl.en Herrschaft, als A. nicht mehr Residenz war, erreichte der Ort im späten 16. Jahrhundert seine erste Blütezeit.

Da viele Livländer vor dem 1558 beginnenden Livländischen Krieg nach Ösel flüchteten, rechtfertigte die gestiegene Einwohnerzahl, dass A. schließlich ein Stadtrecht, das Rigaer Recht, erhielt. Bischof Münchhausen verkaufte 1559 sein Bistum Ösel an König Friedrich II. von Dänemark, der es seinem Bruder Herzog Magnus von Holstein (1540–1583) als Ausstattung übergab. Dieser verlieh dem Ort 1563 das Stadtrecht; zehn Jahre später sind an die 50 Bürgernamen belegt. Vom Ende des livländischen Mittelalters 1561 bis 1645 residierte ein dänischer Statthalter auf dem Schloss, dann musste Dänemark aufgrund des Friedensvertrages von Brömsebro u. a. Ösel wie bereits die Wiek an Schweden abgeben. 1648 wurde A. dem Feldherrn Magnus Gabriel de la Gardie als Grafschaft zu Lehen gegeben, fiel aber sechs Jahre später der abgedankten Königin Christina als Leibrente zu.

Die erste Blütezeit wurde durch die schwedische Reduktionspolitik, in der nicht nur Adels-, sondern auch städtische Güter beschlagnahmt wurden, vor allem aber durch den Nordischen Krieg (1700–1721) beendet. 1710 wurde A., das durch eine Pest fast ausgestorben war, von den Russen besetzt und verwüstet; erst ab 1721 gehörte A. endgültig zu Russland. Die wenigen verbliebenen Einwohner wurden bereits 1712 aufgefordert, wieder eine Bürgerschaft zu bilden. Durch Privilegien wurde eine Neuansiedlung gefördert und das wirtschaftliche Wiedererstarken der Stadt ermöglicht. Die Initiativen des Vizegouverneurs Balthasar von Campenhausen (1783–1797) brachten der Stadt, die 1783 zur Kreisstadt des Kreises Ösel erhoben wurde, weiteren Aufschwung: Das gesellschaftliche Leben entwickelte sich mit Theater, Klubs und Bibliothek zunehmend attraktiv, zudem wurde eine Schulreform nach den Ideen der Aufklärung durchgeführt.

Für das livländische Spätmittelalter, als A. bischöfliche Hauptresidenz war, sind weder die Strukturen einer städtischen Selbstverwaltung ersichtlich noch Nachrichten über das Verhältnis zwischen Bischof und Einwohnern überliefert. Für 1541 ist ausnahmsweise belegt, dass Einwohner und Bürger dem Bischof Johann von Münchhausen nach seiner Wahl huldigten und dafür in ihren Rechten bestätigt wurden; ein Bürgermeister wird nicht genannt. Erst in der dänischen Zeit, anlässlich der Verleihung des Rigaer Stadtrechtes 1563, treten städtische Amtsträger in den Quellen hervor: Zwei Bürgermeister und ein Stadtvogt sollen mit fünf Ratsherren den Rat bilden und das vom Landesherrn, namentlich von seinem auf der A. sitzenden Drosten, »wie bisher« unabhängige Stadtgericht bilden. Diese Unabhängigkeit wurde gravierend eingeschränkt durch die Funktion des Landesherrn als Appellationsinstanz über dem städtischen Gericht; anzunehmen ist, dass die Regelung auf die bischöfliche Zeit zurückging. Herzog Magnus bestätigte des weiteren die von den Öseler Bf.en verliehenen Privilegien, verbot Beihäfen, die den städtischen Hafen wirtschaftlich schwächten, übertrug der Stadt Landbesitz sowie Plätze zum Bau von Gilden- und Waagehaus, ließ erstmals in der Stadt Münzen prägen und verlieh A. Wappen und Siegel. In der schwedischen Zeit musste die Ernennung eines Bürgermeisters oder Ratsherrn von den Behörden genehmigt werden, wenn diese nicht sogar selbst der Stadt einen Amtsträger vorsetzten.

(3) Die Hauptkirche St. Laurentius neben dem Schloss war für das ganze Kirchspiel A. zuständig, das Patronatsrecht lag beim Rat der Stadt. Die Reformation scheint erst spät den Sprung vom Festland auf die Inseln gemacht zu haben, zudem lockte das alte Pfründensystem weiterhin Geistliche in die Ämter der bfl.en Residenz. Als die Laurentiuskirche 1612 abbrannte, wurde sie an zentraler Stelle neu errichtet – die in ihrem Umfang und ihren Rechten gewachsene Stadt zog die Stadtkirche aus ihrer Randlage in der Vorstadt näher an sich heran, während die beschädigte Burg ihre Anziehungskraft eingebüßt hatte. Neben ihr wurde in der Schwedenzeit bloß noch eine Garnisonkirche errichtet. Eine russisch-orthodoxe St. Nikolai-Kirche lässt sich ab 1748 nachweisen, die 1790 im klassizistischen Stil erneuert wurde.

(4) Die Ausmaße der Stadt sowie die Anzahl der Häuser in bischöflicher, dänischer und schwedischer Zeit sind nicht bekannt. Die bis Anfang des 15. Jahrhunderts vollendete Burg entspricht dem vom Deutschen Orden in Preußen und Livland geprägten quadratischen Konventshaustyp. Durch Sprengung der von den Schweden erbauten Bastionen durch die Russen 1711 wurde die Festung stark beschädigt. Die nach Ende der Residenzzeit einsetzende Blüte der Stadt im 17. Jahrhundert drückte sich 1670 im Bau des Barockportals des Rathauses aus.

(6) Die Verlegung der Hauptresidenz des Öseler Bf.s auf die Insel Ösel schuf zwar die Basis für die Gründung und das wirtschaftliche Gedeihen des Hakelwerkes A., aber die Insel blieb bis zum Ende der geistlichen Landesherrschaft im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts städtearm und von Adligen und Geistlichen geprägt. So ist anzunehmen, dass A. nicht nur in der städtischen Gerichtsbarkeit, sondern in seiner gesamten Verwaltung in starker Abhängigkeit von den adligen Bf.en stand. Erst nach der Residenzzeit konnte A. durch den enormen Zuwachs an Einwohnern, die Erhebung zur Stadt, die auf der Insel relativ friedliche dänische Zeit und die besonders den Adel auf Dauer politisch und wirtschaftlich schwächende Reduktion in schwedischer Zeit aufblühen und sich zu einer wichtigen Handelsstadt entwickeln.

(7) Ungedruckte Quellen zur Öseler und Arenburger Geschichte befinden sich vor allem in Kopenhagen, Dänisches Reichsarchiv, Fremmed Proveniens, Livland, Oesel Stift Registrant 4a. – Gedruckte Quellen: Herzog Albrecht von Preußen und Livland, Bde. 1–4 (1996–2005).

(8)Körber, Martin: Ösel einst und jetzt, Bd. 1: Arensburg, Arensburg 1887 (ND Hannover 1974). – Tuulse, Armin: Die Burgen in Estland und Lettland, Dorpat 1942 (Verhandlungen der gelehrten Estnischen Gesellschaft, 23), besonders S. 211–221. – Helk, Vello: Beiträge zur Arensburger Ratslinie in dänischer und schwedischer Zeit (1563–1710), in: Ostdeutsche Familienkunde 11 H. 2 (1986) S. 44–48. – Seresse, Volker: Art. „Arensburg“, in: Höfe und Residenzen I,1 (2003), S. 16 f.

Henrike Bolte