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Goethes Wortschatz

Wendet man sich nun dem literarischen Werk unter dem Aspekt der Wortschatzentwicklung zu, so ist zunächst die Vorstellung fernzuhalten, als gebe es jenseits der Allgemeinsprache einen speziellen Wortschatz der Literatur in dem Sinne, wie es einen Wortschatz der Botanik gibt. Vielmehr schöpft der literarische Sprachgebrauch prinzipiell aus allen Sprachvarietäten und lexikalischen Registern in kreativer Kombination, Um- und Neubildung.

Goethe hat an der äußeren und inneren Mehrsprachigkeit in besonderer Weise teil. Er lernt die wichtigsten alten und neuen Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch, Englisch), er wächst im reichsstädtischen Frankfurt in einem Schriftsprachetyp süd(west)deutscher Prägung auf und geht später zum fortgeschrittenen ostmitteldeutschen Schriftsprache-Standard über, er kommt durch seine Ortswechsel und Reisen mit verschiedenen Regionalsprachen in Kontakt (außer Frankfurterisch-Hessisch: Leipziger Obersächsisch, Straßburger Elsässisch, Weimarer Thüringisch, ferner etwa Schweizerisch) und unterhält kommunikative Beziehungen zu vielen gesellschaftlichen Gruppen, nicht zuletzt auch zur Wissenschaft.

Seine literarische Sprache öffnet sich all diesen Einflüssen, und v.a. ist sie in sich eminent wandlungsfähig, nicht nur im Sinne einer Variabilität nach Themen, Gattungen und Formen, sondern auch im individualgeschichtlichen Profil.

Goethes sprachkünstlerische Entwicklung wird gewöhnlich in drei Perioden eingeteilt:

a) Es waren die neuen Anschauungen über Sprache, Poesie und Genie, Goethe entscheidend durch Herder vermittelt, die der Literaturrevolution des Sturm und Drang Substanz und Richtung gaben. Das Ursprüngliche, Natürlich-Spontane, Sinnlich-Bildhafte, Kraftvoll-Dynamische galten als Qualitäten, die eine Sprache unmittelbar zur Sprache des Genies und der Poesie machten. Daher das Interesse für die Stilelemente der lebendigen, melodischen, emphatischen Sprechsprache, der Volkspoesie und des Deutsch der Lutherzeit (abgesehen von den literarischen Vorbildern). Dialektismen, Umgangssprachliches und Archaismen fließen ein (z.B. haudern, Maidel, Buhle), kühne Wortbildungen häufen sich. In der Lyrik reicht die Spanne vom Volksliedton des ‘Heidenröslein’ bis zur Ekstatik der freien Rhythmen in ‘Wandrers Sturmlied’, beide weit entfernt von Normalsprache und Regelpoetik.

b) Schon vor der Italienreise beginnen die Zeugnisse für eine krisenhafte Distanz zum Werkstoff (deutsche) Sprache. Die Eigenart der Muttersprache, aber auch die Eigengesetzlichkeit von Sprache überhaupt, der Symbolcharakter des Wortes werden bewußter. Den Übergang von der Geniesprache zum Sprachstil der Klassik hat man mit Gegensatzpaaren wie individualisierend - typisierend, dynamisch - statisch zu beschreiben versucht. Die neuen Tendenzen in der Ausdrucksgestaltung sind gut erkennbar an den Textrevisionen für die erste Sammelausgabe (1787-90); im ganzen findet Anpassung oder Annäherung an den Sprachstandard (Adelung) statt, Maß und Klarheit sind das Ziel: haudern zu zaudern, Reuter zu Reiter, Berge wolkenangetan zu Berge wolkig himmelan usw. Gleichwohl gibt es auch in der klassischen Periode weite Pendelschläge in der Sprachgebung. Nur auf die ‘Iphigenie’ sehend, könnte man fehlschließen, Goethe habe nun seinen Wortbildungstrieb unterdrückt und den Gebrauch von Fremdwörtern eingestellt.

c) Der Altersstil, schon voll entwickelt im ‘Divan’ und kulminierend in ‘Faust II’, ist in der souveränen Amalgamierung auch disparatester Sprach- und Stilmittel Goethes allerpersönlichster, eine einmalige Kunstform, jeder Vorbildhaftigkeit enthoben. So ist z.B. zu bemerken, daß Goethes Wortbildungspotenz erst im Alter zur höchsten Steigerung gelangt, dabei in manchen Zügen wiederum auf seine Jugendsprache zurückverweist, so in der Neigung zu mitunter skurrilen Wortungetümen, wie Fettbauch-Krummbein-Schelm, Flügelflatterschlagen und Fratzengeisterspiel in ‚Faust II’ oder Scheitholzflößanarchie und Weltgeschichtsinventarienstück in späten Briefen.