Snell verband mit dem Lexikon eine Erwartung. Er hatte seit vielen Jahren eine historisierende Methode des Nachdenkens über die alten Griechen entwickelt. Er wollte dem Geschichtlichen dessen nachspüren, was die Griechen geleistet haben. Er tat dies besonders, indem er die Distanz zwischen dem Denken Homers bzw. seinen Personen und dem Denken der Griechen nach Homer aufspürte und aufzeichnete. Dass Snell sich dabei in einige unhaltbare und primitivistische Positionen verrannt hat, (die er bis zu seinem Lebensende auch gegen jede Kritik verteidigt hat) ändert nichts an der Bedeutung seines Ansatzes.18

Aus philosophischer Sicht hat 1976 C.F. von Weizsäcker Snells Ansatz in einem (aus Anlass der Krise) an Bruno Snell gerichteten Brief beschrieben.19 Weizsäcker betonte die Unverzichtbarkeit des Rekurses auf die griechische Philosophie beim philosophischen Nachdenken über die Probleme der modernen Wissenschaftstheorie, Gesellschaftstheorie und Anthropologie und beschrieb, wie sehr der Sprachgebrauch der klassischen griechischen Philosophie sich mit der „einzigen großen Stilisierung“ auseinandersetze, die den Anfängen der Philosophie (und der Lyrik) vorausliege, eben dem homerischen Epos. Dann, direkt an Snell gerichtet: „Die von Ihnen eingeleitete lexikalische Arbeit an diesem Epos bereitet also philologisch den Boden auf, aus dem sich schließlich der ganze Baum des abendländischen Denkens genährt hat“

Der durch Snells Theorien vorgegebene, von Weizsäcker ausdrücklich betonte relative Wert der Erforschung der homerischen Sprache kann freilich nur relevant werden, wenn es gelingt, die Sprache und die Wörter des frühgriechischen Epos unabhängig von Späterem als Teil einer in sich selbst interessanten Literatur und Kultur zu begreifen und zu erklären.

Deswegen betonte Snell auch von Anfang an die Notwendigkeit der Rückkehr zur klassischen Maxime, die Aristarch zugeschrieben wird: Ὅμηρον ἐξ Ὁμήρου σαφηνίζειν (Homer aus Homer erklären). Das ist die antike Formulierung der Notwendigkeit der synchronen Erklärung eines gegebenen Wortschatzes.

Der Snell'sche Ansatz hatte eine unausgesprochene Voraussetzung. Snell folgte in seinem Verstehen des frühgriechischen Epos einer nicht nur in der Altertumswissenschaft weit verbreiteten Ansicht über die "Kulturstufe" des homerischen Griechenlands. Spätestens seit dem 19. Jh. war das Archaische erfunden. An seiner Konstruktion wurde allseits gearbeitet, in der Geschichte der Kunst, der Philosophiegeschichte, der Religionsgeschichte, der Rechtsgeschichte, der politischen Geschichte. Ein berühmtes Beispiel: Friedrich Engels entdeckte (in der Nachfolge von L .H. Morgan) im homerischen Griechenland in politisch-gesellschaftlichen Dingen den aktuellen Übergang von der Barbarei in die Zivilisation. Die Entstehung des Staates hatte noch nicht stattgefunden, aber stand grade bevor.

Ganz ähnlich fand Snell im (von ihm nicht thematisierten) Rahmen von Kulturstufen-Theorien und Fortschrittsglauben bei Homer eine Form des (ja angeblich meist sinnlich-konkreten) archaischen, primitiven Denkens. Die „Entdeckung des Geistes“ (so der berühmte Buchtitel von Snells Aufsätzen von 1946) hatte noch nicht stattgefunden, aber stand grade bevor. Die homerischen Menschen hatten, so Snell, keine Vorstellung von der Einheit des menschlichen Körpers, sie hatten kein Bewusstsein von der eigenen psychischgeistigen Funktion beim Entscheiden zwischen Alternativen, und einiges mehr.

Das von Snell durchaus auch in der Hoffnung, dass das alles noch viel genauer dargelegt würde, ins Leben gerufene Lexikon hat sich anders entwickelt. Zwar bemühten sich anfangs einige Autoren, Snell'sche Terminologie beizubehalten, auf dass ja nicht der Eindruck entstünde, ein Held Homers habe sich in irgend einer Sache frei entschieden,20 und noch Frau Voigt rief als Redaktorin den Meister beim Verdacht anti-Snellistischer Umtriebe zu Hilfe. Der aber war kein Snellist. Er ließ geschehen, dass sich eine Generation von Wissenschaftlern an seinen Thesen abarbeitete, sie aber letztendlich doch verwarf. In den einschlägigen größeren Artikel über thumos, menos, noos21 haben die Snell`schen Thesen ihre Spuren hinterlassen, sie sind aber nicht maßgeblich.

 

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18     Die Literatur zu Snell ist unübersehbar. Die gründlichste Kritik steht bei A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers, AAWM 1990/5, Stuttgart 1990. Eine historische Einordnung bei W. Burkert, Mikroskopie der Geistesgeschichte. Bruno Snells ‚Entdeckung des Geistes' im kritischen Rückblick Philologus 148 (2004) 168 – 182 = Kleine Schriften 7,277ff.

19     Beck / Irmer 1996, 193f.

20     K. Mathiessen in den Artikeln bouboul boule, boulomai.

21     Von Rijk van Bennekom/S.R. Van der Mije und R. Führer.