Erforschung volkstümlicher Erzähltraditionen

Die Arbeitsstelle „Enzyklopädie des Märchens“, von 1980 bis zum Abschluss des Projektes 2015 ein Vorhaben der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, hat ein Nachschlagewerk herausgebracht, das die Ergebnisse von zwei Jahrhunderten internationaler Forschungsarbeit im Bereich volkstümlicher Erzähltraditionen umfassend darstellt.


Erfasst sind neben Märchen alle Formen populären Erzählens, d. h. auch Sagen, religiöse Erzählstoffe und viele humoristische Geschichten. Die Stichwortliste (s.u.) verzeichnet rund 4000 alphabetisch angeordnete Artikel zu Inhalten (Kurzmonographien über wichtige Erzähltypen, -stoffe und -motive; Werke und Autoren, die für die populäre Überlieferung relevant sind) sowie Theorie (Methoden, Gattungs-, Stil- und Strukturfragen) und Forschungsgeschichte. Ziel der „Enzyklopädie des Märchens“ war es, die reichen Sammelbestände mündlich und schriftlich überlieferten Erzählguts aus den verschiedensten Ethnien einschließlich ihrer Wechselwirkungen zu vergleichen und ihre sozialen, historischen, geistigen und religiösen Hintergründe aufzuzeigen. Die Bände des Handwörterbuchs sind bei De Gruyter erschienen. 

 

Geschichte und Wissenswertes

Die Enzyklopädie des Märchens ist ein Nachschlagewerk, das die Ergebnisse von fast zwei Jahrhunderten internationaler Forschungsarbeit im Bereich volkstümlicher Erzähltraditionen in Vergangenheit und Gegenwart umfassend darstellt. Erschienen sind 14 Bände zu je 720 Seiten (Aarne - Zypern sowie die Nachtragsartikel Ābī - Zombie) und ein Registerband. Die Stichwortliste verzeichnet rund 3.900 alphabetisch angeordnete Artikel folgender Art:

  • Darstellungen von Theorien und Methoden, Gattungsfragen, Stil- und Strukturproblemen, Fragen der Biologie des Erzählguts
  • Kurzmonographien über wichtige Erzähltypen und -motive
  • Biographien von Forschern, Sammlern und Autoren bedeutender Quellenwerke
  • Nationale und regionale Forschungsberichte

Vorläufer der Enzyklopädie des Märchens war das von Lutz Mackensen herausgegebene Handwörterbuch des deutschen Märchens (1930-1940). Eine Fortsetzung im Rahmen dieser national begrenzten, auch thematisch engeren Konzeption schien nicht sinnvoll; Erzählforschung kann heute nur in weltweiten Zusammenhängen betrieben werden. Die neue Planung erforderte den Aufbau eines umfangreichen Archivs von Texten, die Auswertung von Quellen und Sammlungen aus aller Welt und die Aufarbeitung der erreichbaren Sekundärliteratur. Aus zunächst bescheidenen Anfängen in den späten 1950er-Jahren entstand die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von der Stiftung Volkswagenwerk getragene Arbeitsstelle der EM in Göttingen. Seit 1980 war die EM ein Unternehmen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Die seit 1958 erscheinende Zeitschrift Fabula, der 1959 in Kiel und Kopenhagen abgehaltene internationale Erzählforscherkongress, die im Jahr danach erfolgte Gründung der International Society for Folk Narrative Research und seitdem turnusmäßig alle 4-5 Jahre abgehaltene internationale Kongresse halfen, Kontakte mit Forschenden und Interessierten in allen Kontinenten zu knüpfen und viele kompetente Mitarbeitende für das Unternehmen zu gewinnen. Bei den Artikeln der EM arbeiteten ca. 800 Autorinnen und Autoren aus ca. 60 Ländern mit.

Der Titel Enzyklopädie des Märchens soll keine gattungsmäßige Eingrenzung im Sinne neuerer Definitionen bedeuten. Es geht in diesem Werk um alle Kategorien, welche die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm seinerzeit in den Kinder- und Hausmärchen unter ihrem weitgefassten Begriff zusammengenommen haben, also auch Tiergeschichten, Fabeln, Legenden, Ätiologien, Sagen, Novellenstoffe, Schwänke, Kettenmärchen etc.; dies entspricht der Katalogisierung im internationalen Typenverzeichnis (AaTh und ATU).

Ziel der EM war es, die reichen Sammelbestände mündlich und schriftlich überlieferten Erzählguts aus den verschiedensten Ethnien zu vergleichen und ihre sozialen, historischen, psychischen und religiösen Hintergründe aufzuzeigen. Das Werk erfasst schwerpunktmäßig die oralen und literalen Erzählformen Europas und der europäisch beeinflußten Kulturen wie auch die des mediterranen und asiatischen Raums. Das Erzählgut der bis vor kurzem schriftlosen Völker ist in den zuständigen regionalen Forschungsberichten berücksichtigt. Darüber hinaus werden die Vermittlungswege von Stoffen und Motiven anhand literarischer Quellen wie Exempel-, Legenden-, Predigt-, Historien- und Volksbücher und der mit der mündlichen Überlieferung in Zusammenhang stehenden Dichtung verfolgt und damit die beständigen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Volksüberlieferung deutlich gemacht. Auf diese Weise liefert die EM eine Fülle von Informationen für Interessierte aus verschiedensten Forschungsbereichen, u. a. Philologie und Literaturwissenschaften, Ethnologie, Religionswissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Kunstgeschichte, Medienforschung. 

 

Praktisches zur Arbeit mit der Enzyklopädie des Märchens

Stichwortliste

  • A  Aarne, Antti Amatus - Aztekisches Erzählgut
  • B  Baba Jaga - Byzantinisches Erzählgut
  • C  Cabinet des fées - Cyriakus, Hl.
  • D  Dach - Dzanglun
  • E  Eberhard, Wolfram - Ey(e)ring, Eucharius
  • F  Fabel - Fußspuren
  • G  Gaal, Georg von - György, Lajos
  • H  Haar - Hyltén-Cavallius, Gunnar Olof
  • I  Ibn al-Ǧauzi - Iwein
  • J  Jack Tales - Jung-Stilling, Johann Heinrich
  • K  Kabašnikaŭ, Kanstantin Paŭlawič - Kyros
  • L  Lachen - Lycosthenes, Conrad
  • M  Ma'assehbuch - Mythos
  • N  Nachbar, Nachbarin - Nyman, Åsa Margareta
  • O  Oberon - Ozawa, Toshio
  • P  Pädagogik - Pyramus und Thisbe
  • Q  Qual des Brotes (Flaches) - Qvigstad, Just Knud
  • R  Rabbi - Rußland
  • S  Saba: Königin von S. - Syrjänen
  • T  Tabak - Tyrannen
  • U  Übel: Das kleinere Ü. - Utopie
  • V  Vakarelski, Christo Tomov - Vulpius, Christian August
  • W  Wache blenden - Wurst in der Tasche des Pastors
  • X  Xeroxlore - Ysengrimus
  • Z  Zachariae, Theodor Victor Hugo - Zypern
  • NachtragslieferungA - Z  Âbî - Zombie

Musterartikel als PDF

Registerabfragen

Über die untenstehenden Links besteht Zugang zu den elektronisch geführten Registern der EM (zuletzt 2012 aktualisiert). Die Abfragemasken der jeweiligen Register sind analog aufgebaut und liefern Listen mit Angabe von Band und Spalte des gesuchten Eintrages. Bei der Abfrage muß auf Groß-/Kleinschreibung geachtet werden. Das Umkehrregister gibt Auskunft über alle im Archiv der EM klassifizierten Sammlungen.

TITCOD: Suche nach Autoren
TYP: Suche nach Erzähltypen (z.B. AT, MOT, Hansen usw.; mit Leerstelle vor der Nummer eingeben)

Bibliotheksbestände

Die Bibliothek der Arbeitsstelle Enzyklopädie des Märchens enthält (inklusive einer unfangreichen Sammlung von Sonderdrucken) ca. 12.000 Einzeltitel zu Themen der internationalen Erzählforschung. Sie können über den OPAC der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen abgerufen werden. 

Konkordanz mit dem Aarne-Thompson-Index (AaTh)

Die Liste nennt für AaTh-Typen die entsprechenden Artikel in der Enzyklopädie des Märchens. Die AaTh-Typen gliedern sich folgendermaßen: 

  • 1–299: Animal Tales (Tiermärchen)
  • 300–749: Tales of Magic (Zaubermärchen)
  • 750–849: Religious Tales (Legendenartige Märchen)
  • 850–999: Romantic Tales (Novellenartige Märchen)
  • 1000–1199: Tales of the Stupid Ogre (Märchen vom dummen Teufel/Riesen)
  • 1200–1999: Jokes and Anecdotes (Schwänke)
  • 2000–2400: Formula Tales (noch nicht bei Aarne)
  • 2401–2500: Unclassified Tales (noch nicht bei Aarne)

Abkürzungsverzeichnis

In der Enzyklopädie wird das jeweilige Stichwort innerhalb des Artikels abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen sind im Verzeichnis der Abkürzungen aufgelöst. 

 

Personen

Herausgebergremium:
Prof. Dr. Heidrun Alzheimer | Prof. Dr. Hermann Bausinger | Prof. Dr. Rolf Wilhelm Brednich | Prof. Dr. Wolfgang Brückner | Prof. Dr. Daniel Drascek | Prof. Dr. Helge Gerndt | Prof. Dr. Ines Köhler-Zülch | Prof. Dr. Klaus Roth | Prof. Dr. Hans-Jörg Uther

Redaktion:
Dr. Doris Boden | Dr. Ulrich Marzolph | Ulrike-Christine Sander | Christine Shojaei Kawan
Sekretariat: Axel Füllgrabe