Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Gorninchem (Gorkum)

Gorninchem (Gorkum)

(1) G., ursprünglich gelegen westlich der Mündung der kleinen Linge in die größere Merwede, zwischen Alblasserwaard und Tielerwaard, zwei Inseln bzw. Polder im von der nördlichen Lek und der südlichen Merwede gebildeten Delta, war Hauptort des von den Herren von Arkel geschaffenen »Landes van Arkel«, das zwischen der Grafschaft Holland im Westen und der Grafschaft (ab 1339 Hzm.) Geldern im Osten und dem Herzogtum Brabant im Süden lag und bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts eine relativ selbständige Stellung zwischen den größeren Ländern innehatte. Der Ortsname verweist mit seiner -ingen/-heim-Silbe auf eine Entstehung in fränkischer Zeit, als dieses Gebiet zum Gau Teisterbant gehörte, der zunächst dem Bischof von Utrecht unterstand, ab 1130 aber dem Grafen von Holland zugehörte. Die Vorsilbe »Gor« kann Bezug nehmen auf einen 1018 erwähnten Mann namens Goor, der als Vorsteher des Teisterbant fungierte. Erste Erwähnung findet der Ort G. in einer Urkunde Graf Floris IV. von Holland von 1224, mit der er den dort wohnenden Leuten des Grafen von Bentheim Zollfreiheit in der Grafschaft Holland verlieh, übrigens eine Bestätigung älterer Rechte. Abzuleiten ist, dass der Ort im Rahmen des hochmittelalterlichen Landesausbaus entstanden sein muss. Vermutlich verkaufte Graf Otto II. von Bentheim seine Güter in Teisterbant und so auch G. um 1250, wohl vor 1267, an ein Mitglied der Familie Van der Lede. Diese lässt sich als Grundbesitzer am Fluss Lede (einem Nebenfluss der Linge) auf das 12. Jahrhundert zurückführen, seit 1253 nannte sich ein Zweig »van Arkel«. Für 1267 wird der Bau einer Burg in G. angenommen (in der späteren Flur Wijdschild).

Diese Familie konnte im 13. Jahrhundert einen größeren und relativ selbständigen Herrschaftskomplex im Grenzbereich von Holland Brabant und Geldern bilden, zu dem u.a. das »Land van Arkel« als Allod gehörte. 1270 trug Jan I. »der Starke« van Arkel das Land einschließlich des »Hauses zu G.« dem Grafen von Holland als Lehen auf, die Burg G. wurde dem holländischen Grafen geöffnet. Während des gesamten 14. Jahrhunderts waren die Herren von Arkel Parteigänger der Grafen von Holland (ab 1352 als einer der vier gfl.-holländischen Bannerherren), G. war ihr Machtzentrum, was sich darin ausdrückte, dass in G. Urkunden ausgestellt wurden. Ende des 14. Jahrhunderts hatten die Herren von Arkel eine den Grafen von Holland faktisch ähnliche Machtstellung erreicht, was beispielsweise die jährlichen grundherrlichen Einkünfte und die Unterhaltung eines Hofes angeht; ein Familienmitglied war 1364-1378 Fbf. von Lüttich. Ihren machtpolitischen Höhepunkt erreichte die Familie mit Jan V. van Arkel, der eine Tochter des Hzg.s von Jülich heiratete und eine Zeitlang »Tresorier« (Schatzmeister) und Statthalter des holländischen Grafen war. Sein Sturz am holländischen Gf.enhof führte in die »Arkelse oorlog« genannte Auseinandersetzung 1401-1412, an deren Ende die Herrschaft der Herren von Arkel aufgehoben und Graf Wilhelm VI. von Holland als neuer Herr anerkannt wurde. Zur Verwaltung des Landes van Arkel wurde ein Statthalter, später Drost (ndl. drossaard) bzw. Kastellan und ein Rentmeister eingesetzt, zugleich wurde 1412 die Burg geschleift.

Als Teil der Grafschaft Holland machten das Land van Arkel und G. die wechselvolle und ereignisreiche Entstehung der burgundischen Niederlande mit, zu denen es sicher ab 1433 gehörte. In G. hielt sich in den frühen 1460er Jahren Isabella von Bourbon, die Ehefrau Karls des Kühnes von Burgund auf, der als Thronfolger im Herzogtum Burgund 1456/57 bei seinem Vater in Ungnade gefallen war, 1459 das Land van Arkel als Apanage erhalten hatte und sich zu dieser Zeit zumeist in Den Haag aufhielt. Ab 1462 ließ er das G.er Schloss mit dem »Blauen Turm« erweitern. G. war 1483 Stützpunkt Maximilians I. als Landesherr der Niederlande während seiner Auseinandersetzung mit dem Bistum Utrecht. In G. wurde 1528 der Vertrag geschlossen, mit dem die weltliche Herrschaft über das Bistum Utrecht und Groningen an Kaiser Karl V. als Herrn der Niederlande übereignet wurde. 1540 hielt sich Kaiser Karl V. bei einer Inspektionsreise kurz in G. auf. Als letzter Landesherr der habsburgischen Niederlande hielt sich König Philipp II. von Spanien 1549 kurz in G. auf.

G. schloss sich 1572 dem Aufstand der Niederlande an, im Achtzigjährigen Krieg gab es keine Kampfhandlungen in G. Der Ausbau gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu einer der Grenzfestungen zwischen nördlichen und südlichen Niederlanden führte zu einer Verdoppelung des Stadtareals, der Drost fungierte als Festungskommandant. Im Französisch-Niederländischen Krieg spielte sie 1672 eine Rolle. 1787 kam es zu einer kurzfristigen Besetzung durch Preußen, im Januar 1795 wurde G. von französischen Revolutionstruppen besetzt.

(2) Die Ausbildung stätischer Strukturen setzte bereits vor der Stadtrechtsverleihung ein. 1288 wurde G. in einer Urkunde als Stadt (»oppidum«) bezeichnet, 1313 werden zwei Schöffen, 1329 »poorter« (Bürger), 1349 Bürgermeister erwähnt. Das Stadtrecht wurde durch Otto van Arkel 1382 verliehen (zugleich auch an Leerdam und Hagstein), das allerdings noch nicht vorsah, dass die Stadt sich selbst Recht (ndl. »keuren«, »Küren«) geben durfte. Um 1300 dürfte G. mit Wällen befestigt gewesen sein, eine Mauer wurde 1350-1380 angelegt, vor oder zur Stadtrechtsverleihung war sie vervollständigt. Im Laufe des 14. Jahrhunderts gab es eine Vergrößerung des bebauten Gebiets, nach Osten wurde ein »Over de Haven« genannter Teil (später als »Bovenstad«, obere Stadt bezeichnet) einbezogen und außerdem eine neue Gracht (Graben) angelegt. Der neue, östliche Stadtteil konnte über drei Brücken erreicht werden, im Norden über die Korenbrug (1381 belegt), in der Mitte über die Visbrug (1393) und im Süden die Peterbrug (1412). Im Hafen befand sich ein 1395 erstmals genannter Kran, an dessen Bau- und Unterhaltskosten der Herr zu einem Drittel, die Stadt ebenfalls zu einem Drittel und ein Mann namens Heynric Porter auch zu einem Drittel beteiligt waren und den sie gemeinschaftlich verpachteten, weswegen die Einnahmen gedrittelt wurden; für die Verladung von Wein gab es eine Kranpflicht. Für die Zeit um 1400 werden ca. 3600 Einwohner angenommen (vermutlich die elftgrößte Stadt in Holland und Zeeland zu dieser Zeit), obwohl es 1388 einen verheerenden Stadtbrand gegeben hat und 1348/50 eine Pestwelle. 1494 gab es 650 Haushalte (von denen 400 Steuern zahlten), was auf knapp 3000 Einwohner schließen lässt, 18,4% galten als hausarm, lebten also trotz Hausbesitz von Almosen. Höchste Einwohnerzahl gab es vermutlich 1650 mit ca. 6000, ansonsten schwankte die Zahl in der frühen Neuzeit um 4500.

Im 14. Jahrhundert fand die alljährliche Ratsumsetzung am Tag des Hl. Pontianus (14. Jan.) statt. Neben dem Drost bestand der Rat aus sieben Schöffen und sieben Alt-Schöffen, die mindestens zwei Jahre Bürger gewesen sein mussten. Diese wählten aus ihrer Mitte zwei Bürgermeister (1349 erstmals erwähnt) und einen Thesaurar, dem die Führung der Stadtkasse oblag (erstmals 1437 belegt, ab 1515 zwei Thesaurare). Aus dem Jahr 1454 gibt es Hinweise, die die Existenz einer Gemeindeversammlung nahelegen. Das Recht, sich selbst Statuten und Rechte zu geben, besaß G. nicht, doch in Absprache mit stadt- bzw. landesherrlichen Amtsträgern machte der Stadtrat genau dieses. Zuständig war das Schöffengericht für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit. Ab 1436 stand dem Schöffenkollegium ein vom Landesherrn ernannter Schultheiß vor. 1416 ist die Vergabe des Schreiberamts bekannt, ab 1457 gab es einen Stadtsekretär, ab 1504 gab es einen fest angestellten Stadtjuristen (»pensionaris«). Städtische Schützen wurden 1423 erstmals erwähnt, auch wenn die Bürgermiliz älter ist; 1478 bekam die »Sint-Joris-schuttersgilde« der Armbrustschützen ihr Abzeichen durch Maria und Maximilian verliehen (Zeichen des Dankes für die militärische Unterstützung im Krieg 1477/78 gegen Geldern). Später entstanden die St. Sebastiansgilde, in der die Bogenschützen vereinigt waren, und die Christoffelsgilde der Büchsenschützen (Gildebrief 1531). Auf Anordnung der Stände verloren die Schützengesellschaft 1581 ihre politische Rolle in der Stadt.

Eine städtische Akzise ist 1397 belegt. Herzog Philipp der Gute förderte die Sanierung des Haushalts und übertrug 1454 der Stadt das Mühlengeld, die Waagegebühren und den stadtherrlichen Anteil an der Akzise, alles befristet auf 20 Jahre. Spätere Herren verlängerte diese Regelung. 1591 verewigt, verpachtete die Stadt die Nutzung zu höheren Gebühren weiter.

1557 wurde unter König Philipp II. die Stadtregierung der Form anderer holländischer Städte angepasst und eine »Vroedschap« eingerichtet, eine Erweiterung des Stadtrats zur Beratung grundlegender Fragen, die aus höherrangigen Vertretern der Bürgerschaft und der Handwerkerschaft bestand, insgesamt 24 Personen (aus finanziellen Gründen gelegentlich verkleinert auf 17). Zudem wurden aus diesem Kreis die Amtsträger gewählt. Phasenweise (1662-1672, 1707-1748 und 1769-1795) gab es drei Bürgermeister. 1677 gab es 68 städtische Amtsträger. Der Aufstand der Niederlande ab 1572 führte zu einer Spaltung der G.er Führungsschicht, die in der Folge durch eine Hinzuziehung neuer Ratsfamilien gemildert werden konnte, später passten die Anhänger des spanischen Kg.s bzw. der katholischen Lehre sich an.

Schon für 1299 wird eine Konkurrenz zum wirtschaftlich führenden Dordrecht (25 km westlich G.s) angenommen. 1324/25 wird ein Lombarde (Geldwechsler) erwähnt, 1392 eine Tuchhalle am Rathaus, zugleich auch Tuchhändler. 1393 wurde den G.er Kaufleuten die Zoll- und Stapelfreiheit in Dordrecht durch Graf Albrecht bestätigt. Der »Arkelse oorlog« belastete den Handel G.s schwer, weswegen die Stadt sich 1407 dem Grafen von Holland annäherte und ihm die Tore öffnete, worauf sie im Gegenzug die alten Rechte und Privilegien erhielt, die wiederum vom Herrn von Arkel eingezogen wurden, als er die Stadt sich wieder botmäßig machte. Als 1412 der Graf von Holland schließlich siegte, erhielt G. ihre alten Rechte hingegen nicht wieder, Holland durfte von G.er Kaufleuten lediglich bereist werden, besondere Rechte wie die älteren Zollfreiheiten blieben verloren.

1393 werden Brauer erwähnt (Höhepunkt des Brauwesens um 1650), Ziegelbrennereien, Webereien, dazu Schiffer bestimmten das Bild, bedeutend war auch die Fischerei (die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für stete Auseinandersetzungen um Fischrechte in der Merwede mit dem auf dem gegenüber liegenden Ufer befindlichem Woudrichem sorgte), sowie die Landwirtschaft. Auch der Schiffbau spielte eine Rolle. Die älteste Zunft war die der Krämer (1414), die zuletzt gegründete die der Schutenführer (1567), auch die Landwirte (»bouwlieden«, Bauleute, Bauern) hatte ihre Zunft (1548), insgesamt gab es 34 Zünfte. Ausdruck der Gewerbe waren auch die fünf Mühlen, deren erste 1352 erwähnt wird. Das Mühlenrecht (»windrecht«) stand dem Stadtherrn zu, bei den Mühlen handelte es sich um Bann- bzw. Zwangsmühlen.

An Märkten zu nennen sind der Fischmarkt (auf der Visbrug) 1393, sodann sechs Jahrmärkte, d.h. drei allgemeine zweiwöchige, dazu je ein Pferdemarkt, Viehmarkt und ein Tuchmarkt (vor Ende 14. Jh.s). Umschlagsaktivitäten werden beleuchtet durch den städtischen Kran 1395, die Waage 1397. 1324 war ein Lombarde anwesend, was auf den Wechsel fremder Münzen hindeutet und die Eingebundenheit G.s in den Fernhandel nahelegt (1325 erscheint ein Lombarde als Kreditgeber des Herrn von der Lek). Indizien deuten auf einen wirtschaftlichen Niedergang in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hin, 1494 gab es nur zwei oder drei Kaufleute, vier Brauer und zwei Nebenerwerbsbrauer. Im 16. Jahrhundert setzte eine leichte Verbesserung ein. Im 15. Jahrhundert werden 25 Herbergen erwähnt.

Der aus G. stammende Evert de Veer, der Jura studiert hatte, konnte in landesherrlichen Diensten Karriere machen und war 1531-1533 Mitglied des Geheimen Rats zu Brüssel.

(3) Eine (kleine) Kirche dürfte bereits im frühen 13. Jahrhundert bestanden haben, doch ist über sie nichts bekannt. 1254 wird ein Priester erwähnt. Sicher ist, dass 1263 eine Kirchweihe stattfand, Patrozinium war St. Martin, alsbald kam der Hl. Vinzenz hinzu. Diese Kirche wurde später als »Grote Kerk« bezeichnet. 1329 wurde durch einen Bürger ein erster Nebenaltar, geweiht dem Hl. Johannes dem Täufer, gestiftet. Am Hochaltar gab es insgesamt 25 Vikarien. 1362 stürzte der Turm bei einem Sturm ein, der Neubau wurde erst 1457 begonnen, vollendet 1517. Im Marienchor der Großen Kirche wurden beigesetzt Jan III. van Arkel (†1326) und seine Frau Mabelia van Voorne (†1313), Grab später verlegt.

1391 wurde das Augustiner-Kanonikerinnenkloster St. Magdalena gegründet, 1401 das Agneskloster der Franziskanerinnen der Drittel Regel am Groenmarkt gestiftet von der Frau eines Schöffen, zu dem einige der G.er Beginen übergingen (Kapelle 1407, Klausur 1488; abgebrochen 1583). Einziges Männerkloster war das Franziskanerkloster 1454 gegründet, das den Namen »Onze Lieve Vrouwe in Bethlehem« erhielt (1579 abgebrochen, anschließend als Platz des Viehmarkts genutzt). Außerdem gab es zwei Beginenhöfe, die im 14. Jahrhundert entstanden waren, eines wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts aufgehoben.

Älteste karitative Einrichtung war das Hl.-Geist-Haus (um 1300) mit Kapelle (vor 1397, erneuert Ende 15. Jh.). Vor 1321 wird ein St. Elisabeths-Gasthaus erwähnt zur Aufnahme von Reisenden, später auch Kranken. Von der Frau eines Bürgers gestiftet wurde das Altmännerhaus an der Molenstraat 1442. Als unentgeltlicher Wohnraum für Arme unterhalten wurden drei Kammern (»kammeren«), welche 1513 von einem Mitglied der Schöffenfamilie van Puiflijk gestiftet wurden, das in Rostock und Köln studiert hatte. 1557 wurde noch ein Waisenhaus gestiftet, nachdem bereits 1551 ein städtisches Waisenhaus ins Leben gerufen wurde. Vor dem Kanseltor lag das Leprosenhaus, vor dem Laag-Arkel-Tor das Pesthaus, das 1519 eine Kapelle hatte.

1375 stiftete Otto van Arkel ein Kapitel, geweiht dem Gott, den Hll.en Maria, Martin, Vinzenz und Allen Heiligen; Vorbild waren wohl Kapitel des Graf von Holland in Den Haag und Dordrecht. Dessen Dekan war der höchste Geistliche in G.

Es gab vier Bruderschaften. Seit einem Brand 1447 und einem Wunderereignis spielte die Verehrung der Hl. Barbara in G. eine besondere Rolle.

1375 wird eine Schule erwähnt, es dürfte sich um die Große oder Lateinschule handeln, dessen bekanntester Rektor Hendrik van Almelo war, der eine Plautus-Übersetzung angefertigt hatte, für deren Druck der G.er Buchhändler Ludolf van Hoorn sorgte. 1557 wird eine »Französische Schule« erwähnt, an der künftige Kaufleute in Rechnen, Buchhaltung und Fremdsprache ausgebildet wurden (Französisch war Verkehrssprache des Handels), hinzu kamen die einfachen Beischulen für den volkssprachlichen Unterricht. Der Kanoniker Jan an der Haer besaß 1520/30 eine knapp 3900 Titel zählende Bibliothek (inkl. lutherischer Titel), er konnte Griechisch und Hebräisch lesen. G.s bekanntester Gelehrter war der Theologe Hendrik van G. (†1431), der u.a. eine Schrift verfasste über die Beschlagnahmung von Gütern, die Personen gehörten, die während einer Parteiung aus der Stadt gewichen waren (wichtig für die Verhältnisse in Holland, wo seit den 1350er Jahren sich Hoeken und Kabeljauwen bekämpften). Aus G. stammten viele Studenten im 15. Jahrhundert, ca. zehn pro Jahrzehnt.

In G. ließ sich nach seinem Studium in Prag Floris Radewijnszn. nieder, der hier von den Predigten Geert Grotes hörte, dem Begründer der Devotio moderna. Floris sollte sich nach Grotes Tod 1384 zu einem der großen Beförderer dieser Glaubensrichtung entwickeln.

Ab 1522 gab es erste lutherische Äußerungen in G., 1535 auch wiedertäuferische. Die landesherrlich organisierte Verfolgung der Lutheraner wurde auch in G. umgesetzt, 1557 wurde noch im katholischen Geist ein städtisches Waisenhaus gegründet. Öffentlich wurde die calvinistische Lehre 1566 gezeigt. 1570/72 stellte G. sich auf die Seite des Aufstands unter dem Fürsten von Nassau-Orange, womit der Calvinismus alleinige Glaubenslehre wurde. Katholisch verbliebene Geistliche wurden im Blauen Turm gefoltert, wenige Wochen später in Brielle hingerichtet (»G.er Märtyrer«). Um 1600 machten die Katholiken ca. 30% der Bevölkerung aus, die die Gottesdienste in den benachbarten brabantischen Städten besuchten, ab 1600 gab es eine Schlupfkirche.

(4) Wichtig für die Gestaltung des Stadtraums war die Verlegung der Linge näher an G. heran, wodurch wohl um 1300 eine künstliche Anlegestelle geschaffen werden konnte (gesichert 1324). Eventuell gab es bereits im 12./frühen 13. Jahrhundert einen Bentheimer Hof. In der Nachbarschaft der Grote Kerk, an der Krijtstraat, stand der 1405 zuerst erwähnte »Arkelse hof« (auch »oude hof«). Nach dem Ende des »Arkelse oorlogs« 1412 wurde die Arkel-Burg in dem Wijdschild abgerissen, in der Stadt wurde an einigen Orten das gfl.-holländische Wappen angebracht, zudem wurde mit dem Bau einer neuen Burg an der Südseite der Stadt am Ufer der Merwede begonnen. Zur neuen Burg gehörte das Zollhaus, das 1514 erwähnt wird und wohl Teil der Vorburg war (außergewöhnlich repräsentativer Neubau nach einem Brand 1598). Eventuell steht der ab 1462 auf Geheiß Karls des Kühnen gebaute Blaue Turm in Beziehung zu dem Burgundischen Turm, den der Utrechter Bischof David von Burgund ab 1466 in Wijk bij Duurstede errichten ließ, auch wenn dieser architektonisch völlig anders angelegt war. Abgerissen wurde der Blaue Turm im Rahmen des Festungsbaus 1580-1600.

G. litt wiederholt in den Geldrischen Kriegen zwischen Maximilian I. und Karl van Geldern, Vorstädte wurden mehrmals abgebrannt. 1499 kaufte die St. Georgsgilde einige Grundstücke an der Molenstraat, um eine Schießbahn anzulegen. Der Ausbau zur Festung (nach den Prinzipien des Altniederländischen Stils) setzte 1573 ein, im fertigen Zustand 1600 ersetzten vier Tore die älteren sieben der ausgebauten Stadtmauer des frühen 16. Jh.s.

Das erste Rathaus, 1391 erwähnt, befand sich an der Hoogstraat. Am Großen Markt lag die stadt- bzw. landesherrliche Fleischhalle, die 1437 Herzog Philipp von Burgund gegen Erbpacht in das Eigentum der Stadt übergab. In den daraufhin errichteten Neubau zog das Rathaus ein, das Erdgeschoss blieb dem Fleischhandel vorbehalten. Die Waage wurde von Herzog Philipp 1454 an die Stadt verpachtet. Um 1500 befand sich die Waage am Rathaus, was in Verbindung gebracht wird mit der Errichtung des Ratshausturms zu dieser Zeit. 1565 und 1591-1593 wurde es vergrößert, beim zweiten Mal verdoppelt, ergänzt mit Turm, Uhr und Glockenspiel und einer Loggia, die die drei Räume der Schreibkammer aufnahm (gesamter Komplex 1860 abgerissen). Einen Eindruck der Situation bietet das Portrait der Waisenhausmeisterin Hilleke de Roy von 1586, in dessen Hintergrund ein Teil des Rathauses zu sehen ist.

Ausdruck bürgerlichen Bauens waren die Häuser an der Burgstraat, von denen das Haus »’t Coemt al van God« durch eine Zeichnung von 1563 überliefert ist; der reich verzierte Giebel verdeutlicht den repräsentativen Charakter. Aus dem Spätmittelalter stammt ein Packhaus im Kraansteeg.

Stilisiert findet sich G. auf der Landkarte von Tieler- und Bommelerwaard eines unbekannten Zeichners von 1526. Eine Darstellung G.s aus der Vogelschau bietet der Plan des Landmessers Pieter Sluyter von 1553, der auch das Umland zeigt, wie es sich ebenfalls in der Karte von Jacob van Deventer von 1558 findet, allerdings mit weniger Illustrationen. Aus dem Jahr 1568 stammt ein Gemälde mit einer Ansicht G.s von Osten, auf der der Blaue Turm stilisiert zu erkennen ist. Eine Sicht von der Merwede aus gibt es im Städteatlas von Braun/Hogenberg von ca. 1582. Nicolaas Wijtmans fertigte 1600 einen Kupferstich der ausgebauten Festung an. G. ist im Atlas von Blaeu von 1649 so genau dargestellt, dass sich die neuen großen Grundstücke im Westen der Stadt mit ihren barocken Gärten erkennen lassen. Wohl aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammt ein Gemälde von Jan Meerhout, das G. von Osten zeigt. Der Groenmarkt ist Gegenstand eines Jan Beerstraten zugeschriebenen Gemäldes von 1650, das nur als Kopie überliefert ist. Ein Kupferstich von Jacob van der Ulft von 1656 zeigt eine Phantasie eines mächtigen Blauen Turms, auch fertigte er eine wohl naturgetreue Darstellung G.s an. Die Giebelfront der Ostseite der Neustadt mit dem Haus des Festungsbaumeisters Jacob Kemp und dessen Sohn Johan, eines Bürgermeisters, ist 1660 in einer Zeichnung festgehalten worden. Auf Johannes Matthäus Martinis Kupferstich von 1739 ist die Bebauung nur als Schraffur wiedergegeben. Cornelis de Jonker zeigt den Einzug preußischer Truppen in G. 1787, wobei die Stadt vom anderen Merwede-Ufer zu sehen ist. 1799 zeichnete er G. über einen stauenden Eisgang auf der Merwede hinweg.

(5) Eine Einbindung in den Fernhandel belegt bereits die erste urkundliche Erwähnung G.s 1224. Zollfreiheit wurde G.er Bürgern 1287 oder 1288 in Brabant und 1290 erneut in Holland verliehen, als Dank für Dienste, die der Herr von Arkel dem Brabanter Herzog bzw. dem holländischen Grafen geleistet hatte. Neben der Ausfuhr G.er Tuche und Biers spielte der Handel mit dem in Zeeland gewonnenen Salz eine größere Rolle. G.s Handel erfuhr eine kräftige Zunahme mit der Verleihung des Stapelrechts an Dordrecht 1299, der alle über Merwede und Lek eingeführten Güter nach Holland betraf, da G. sich zum Ausweichplatz entwickelte. 1362 erkannte der Graf von Holland den Zwischenhandel zu G. an, außerdem wurden G.s Kaufleute vom Dordrechter Stapelzwang befreit (als Dank für die militärische Unterstützung des Herrn von Arkel im Krieg gegen den Herzog von Geldern). 1393 wurde die Zollfreiheit der G.er Bürger auf ganz Holland ausgedehnt, 1394 kurzfristig die Freiheit vom Dordrechter Stapelzwang gewährt. Im 16. Jahrhundert setzte eine Versandung von Linge und Merwede ein, die die Schifffahrt zunehmend behinderte. G. profitierte wie Amsterdam von der Schließung des Antwerpener Hafens 1585, Tuch- und Nadelmacher kamen vermehrt in die Stadt. 1583-1591 diente G. als Münzstätte, wo auch Münzen anderer niederländischer Territorien wie z.B. Groningen geschlagen wurden.

1384 schloss G. ein sechsjähriges Bündnis mit holländischen Städten. G. gehörte zu den »kleinen Städten« der sich bildenden holländischen Landstände und war als solche an den entscheidenden Verhandlungen und Vorgängen wie Huldigungen und den großen politischen Verträgen des Aufstands beteiligt (so auch 1572 auf der ersten freien Ständeversammlung in Dordrecht), zumeist in Den Haag stattfindend, gelegentlich (1480, 1578 [Vorläufer zur Union von Utrecht]) auch in G.; eine Ausnahme war die Huldigung Karls des Kühnen als Herr des Landes von Arkel, die 1459 in G. stattfand. 1549 huldigte G. dem in G. anwesenden Philipp II. als Herrn der Niederlande. Im Rahmen des Aufstands stieg G. zur achten Stadt (Rotterdam als siebte) in der Rangreihenfolge der Städte im holländischen Südviertel auf. Gemeinsam mit den anderen Städten des Südquartiers war G. ab 1673 an einem ständischen Haus in Den Haag beteiligt (1772 Neukauf). Überdies war G. Mitglied im Wasserverband, der Hoogheemraadschap Alblaserwaard, in welchem es zum östlichen, etwas höher gelegenen »Overwaard« gehörte, das 1676 ein eigenes »Gemeenlandshuis« in dem Ort Kinderdijk erhielt, an dem die Wappen dreier G.er Bürgermeister aufgemalt sind. 1590 bekam G. das Gebiet der vormaligen Adelsherrschaft Hoogblokland gegen 4500 holländischen Gulden zugewiesen. Im direkten Umland spielte G. eine bedeutende Rolle, auch hinsichtlich der dort befindlichen Adligen.

(6) Als Residenzstadt der Herren von Arkel lässt sich G. bis 1412 verstehen, danach als holländische Amtsstadt. In kulturgeschichtlicher Hinsicht ist hervorhebenswert, dass 1363 Otto van Arkel ein Turnier in G. veranstaltete. Der in höfischen Diensten stehende Dichter Augustineken hielt sich (zeitgleich?) im Oktober 1363 in G. auf. Ob und inwieweit die Anwesenheit des Hofs für die Ortsgeschichte entscheidend war, ist schwierig zu sagen. Festzustellen ist, dass G. als Handels- und Festungsstadt auch im Laufe der frühen Neuzeit bedeutend blieb. Eine wirtschaftliche Blüte erlebte G. in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Die genauere Verflechtung von Stadtgemeinde und Hofgesellschaft bleibt noch zu erforschen.

(7) Die schriftliche Überlieferung der Stadt befindet sich im Gemeentearchief Gorinchem (älteste Stadtrechnung von 1514/15). Zu nennen ist die private Urkundensammlung in sechs Handschriften des Aard Kemp Jacobsz. (1550-1638), die sich noch heute z.T. im Gemeentearchief erhalten hat. So ist die Stadtrechtsurkunde von 1382 auch in einer Kopie des 16. Jahrhunderts überliefert. Hinweise zum Wirtschaftsleben vermitteln die Zollrechnungen, von denen einige des 15. und 16. Jahrhunderts erhalten geblieben sind.

Der aus Gorinchem gebürtige Dirk Pauw (latinisiert Theodericus Pauli), Priesterweihe 1442, schrieb neben einer Universalchronik auch eine »Kronycke des lants van Arckel ende der stede van Gorcum« (beendet 1468). Abraham Kemp (vor oder in 1590-1649) verfasste ein Manuskript, das 1656 durch Paulus Vinck zum Druck gebracht wurde unter dem Titel »Leven der doorluchtige Heeren van Arkel ende jaarbeschrijving der stad Gorinchem«.

Das Werk des Schöffen und Mitglied des städtisches Regentenstands Cornelis van Zomeren (†1707) »Beschryvinge der stadt Gorinchem, en Landen van Arkel, benevens der aloude en adelyke geslagten der Doorlugtige Heeren van Arkel […]« wurde gedruckt von Teunis Horneer, Gorinchem 1755.

(8) Tien eeuwen Gorinchem. Geschiedenis van een Hollandse stad, redactie Felix Cerutti, Roel Mulder, Bert Stamkot, Aron de Vries, Utrecht 2018.

Harm von Seggern