Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich

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Großstruktur (architektonische)

Als maßgebl. Unterscheidungsmerkmal zw. einer Burg und einem Schloß galt lange Zeit die vielfältig zergliederte und die geschlossene Form der Baugestalt. Doch obwohl im Verlauf des 16. Jh.s eine Reihe von regelmäßigen Vierflügelanlagen entsteht, die in der Stadtres. von Landshut, der Zitadelle von Jülich, in den Schlössern von Dresden und Kassel sowie in der Augustusburg bei Chemnitz (Farbtafel 92) ihre anspruchsvollsten Vertreter besitzt, bleibt auch die Mehrzahl der Residenzschlösser der aus dem MA überlieferten unregelmäßigen Baugestalt treu. Die in der Burgenarchitektur vorgeprägte Gestalt des »Gruppenbaus« dominiert so bis ins 17. Jh. hinein die architekton. Großstruktur des dt. Schloßbaus. Paradebeispiele hierfür sind die beiden anhalt. Res.en von Bernburg (Farbtafel 93) und Zerbst. Auf dem Areal dieser beiden noch aus slaw. Zeit stammenden Schlösser stehen bzw. standen zur gleichen Zeit die Repräsentations-, Wohn- und Wirtschaftsgebäude von bis zu fünf Fs.en aus z. T. verschiedenen Generationen, ein durch Wohn- und Wehrtürme noch zusätzl. bereichertes ›Häuserkonglomerat‹, das durch seine Vielgestaltigkeit jeder architekturtheoret. Forderung nach Regelmäßigkeit geradezu demonstrativ widersprach. Selbst bei prominenten Residenzprojekten wie dem Ausbau des Schlosses von Torgau unter Kfs. Johann Friedrich I. von Sachsen oder des Schlosses von Heidelberg unter den Pfgf.en Ottheinrich und Friedrich IV. wird auf die regelmäßige Vierflügelanlage verzichtet. Wichtige Ausnahmen sind – neben den bereits genannten Beispielen – die hess. Schlösser Rotenburg und Schmalkalden, das anhalt. Residenzschloß in Dessau (in seinem Ausbauzustand ab 1575/77) und bedingt, da aus recht verschiedenartigen Flügeln gebildet, das Schloß Hinterort von Mansfeld (nicht jedoch die drei Mansfelder Schlösser als Ganzes) sowie das Schloß in Berlin.

Das ansonsten vorherrschende Erscheinungsbild eines zusammengeflickte[n] wesen[s], wie es Philipp Hainhofer 1613 für das Schloß von Neuburg a. d. D. formuierte, besaß im SpätMA und zu Beginn der Frühen Neuzeit geradezu staatstragenden Charakter. Das »Konglomerat von Bauten« (Koch 1960) bzw. das »additive Konglomerat« (Wagner-Rieger 1975) hatte Methode und diente außer der klaren, anschaul. Herausarbeitung verschiedener Funktions- und Repräsentationsbereiche der Zeichenhaftigkeit des Schlosses, die es nicht zuletzt auf dem Gebiet des spätma.-frühneuzeitl. Rechtswesens und auch des dynast. Gedächtnisses entfaltete. Die Vielgestaltigkeit der Schloßanlage und die Möglichkeit, anhand der Bauten aus unterschiedl. Zeiten das altehrwürdige Gewachsensein einer Res. erkennen zu können, entsprach offenkundig bestimmten Aufgabenstellungen und einem hieraus abgeleiteten Ideal adliger Architekturästhetik im späten MA und in der frühen Neuzeit. Die Pflege des alten Baubestandes folgte einem klar umrissenen jurist. Gebot, demzufolge sich Besitz- und Herrschaftsrechte in der Materie des Schlosses selbst manifestierten und nicht zuletzt durch diese Materie auch tradiert wurden. Das Alter der verliehenen Rechte und seine ununterbrochene Gültigkeit besaßen daher im Alter und immerwährenden Bestand des Schlosses ihr Äquivalent.

Daraus ergab sich zwingend die Notwendigkeit, bestimmte wichtige Teile eines Schlosses über Jh.e zu erhalten, damit an ihnen wie an einer alten Rechtsurk. die Wirksamkeit der mit dem Schloß von alters her verknüpften Rechte abgelesen werden konnten. Der Besitz eines jahrhundertealten Adelssitzes und seiner Rechte wirkte wiederum auf das Ansehen der besitzenden Familie zurück: Altehrwürdiges Recht und altehrwürdige Dynastie stützten sich auf dieser Ebene gegenseitig und fanden im altehrwürdigen Erscheinungsbild des Schlosses ihre gemeinsame repräsentative Form. Dies galt in besonderer Weise für den Stammsitz einer Familie, der in seiner Gesamtarchitektur – wie die Albrechtsburg in Meißen oder auch die Hofburg in Wien demonstriert – zum Sinnbild adliger Dignität zu werden vermochte. Ein beredtes anderes Beispiel hierfür vermag das einflußreiche gfl. und ab 1650 reichsgfl. norddt. Adelsgeschlecht der Rantzau zu liefern. In seinem Commentarius bellicus (Frankfurt 1595) behandelt Heinrich Rantzau auch die Modernisierung seiner Schlösser und nimmt dabei eine genaue Unterscheidung zw. der alten, tradierten äußeren Form und dem modernen, funktionalen Inneren vor. Die Beibehaltung der älteren Gestalt bei einigen seiner modernisierten Schlösser – v. a. beim Familiensitz Breitenburg – begr. er explizit mit der Bewahrung des Andenkens seiner Vorväter.

Obwohl dieses Bauprinzip grundsätzl. für den gesamten Adel Gültigkeit besaß, lassen sich doch zw. dem landesherrl. Residenzenbau und dem Schloßbau des Adels aber auch innerhalb der Residenzschlösser des in seinem Status abgestuften Reichsfürstenstandes gewisse Unterschiede in der Intensität feststellen, mit der das Bild »malerischer Vielfalt« gepflegt und der ›Wachstumsprozeß‹ einer Schloßanlage sichtbar vorgeführt wird. Die reichsfsl., landesherrl. Residenzschlösser unterscheiden sich von den Schlössern des niederen Adels nicht zuletzt darin, daß sie gerade nicht die Bauteile aus allen Zeiten nach außen sichtbar bewahrten und wie Jahresringe um den Kernbereich des Schlosses wachsen ließen. Häufig blieb nur der alte Schloßturm in seiner überlieferten Gestalt sichtbar stehen (vgl. den Art. »Der große alte Turm«), während andere repräsentative Teile aus der Vergangenheit, wie das fsl. Haus, zwar in ihrer Substanz überlebten, jedoch durch eine neue Fassade der veränderten Ästhetik angepaßt wurden. Hier ließ sich dann höchstens noch am unregelmäßigen Grdr. der Schloßanlage ablesen, auf welchem alten Grund und Boden das fsl. Schloß stand. Viele adlige Schlösser verzichten demgegenüber auf diesen opt. nur punktuell vorgenommene Traditionsverweis. Statt dessen wird die gesamte, über Jh.e gewachsene Anlage sozusagen als Denkmalensemble dem Besucher präsentiert, und hier und da vorgenommene ›Retuschen‹ an einzelnen Fassaden vermögen der Baugestalt nur den Anstrich des Modernen zu verleihen. Ein in dieser Hinsicht mustergültiges Anschauungsobjekt bietet das sächs. Schloß Weesenstein. Wie bedeutsam in der frühen Neuzeit der Ausweis herrschaftl. Dignität im Medium der Schloßarchitektur blieb, läßt sich an dem mecklenburg. Schloß Güstrow studieren. Hier wurde zw. 1558 und 1594 mit den Mitteln eines fast vollständigen Neubaus ebenjener »konglomerathafte« Eindruck erzeugt, der beim überwiegenden Teil der Schlösser durch jahrhundertelanges, kontinuierl. ›Wachstum‹ entstehen konnte.

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