Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich

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Medien

Flugblätter, Flugschriften, Anschläge

Illustrierte Flugblätter als bedeutendste Form frühneuzeitl. Bildpublizistik sind wie die Flugschriften ein Kind des Buchdrucks. Sie bieten weit mehr als Propaganda – sie vermitteln zeitungsähnl. Informationen, bestärken und steuern offen appellativ oder eher subtil Einstellungen, vermitteln Normen und werten Unerwünschtes ab und sichern in reflektierender Weise Lebenspraxis. Sie waren Medium und Ware. Ihr Publikum reichte von den auf das Vorlesen und Bild-Erfassen angewiesenen Analphabeten über geübte Leser bis zu gezielt kaufenden und sammelnden Gelehrten, Fs.en und sogar Ks.n (Schilling 1990, S. 51). Im kathol. Raum gab es mehr lat. Flugblätter für eine begrenztere Leserschaft, im protestant. Raum wurde eine wesentl. breitere Schicht von dt. Lesenden angesprochen. Gemeinsam war beiden ein ausgeprägtes (und heute kommentierungsbedürftig gewordenes) Bild-Wissen. Als Quellen einer »kulturwissenschaftl. Bildgeschichte« (Aby Warburg 1920, zit. bei Harms 1980-97, Bd. 1, Einleitung, S. 7) erschließen Flugblätter Vorstellungswelten, die durch die enge Verschränkung und gegenseitige Ergänzung von Bild und Text konstituiert werden. Die mehrere Seiten umfassenden Flugschriften sind auch wg. ihres gewöhnl. handlicheren, einem Buch ähnl. Formats stärker am Text als an ihrem (Titel-)Bild orientiert. Anschläge sind in der Regel von Hand geschriebene Einzelstücke, die nur gelegentl. vervielfältigt wurden. Zumeist allein in Textform richten sie sich an ein spezifisches, abgrenzbares Publikum. Örtl. und institutionell ist es durch einen öffentl. Ort gesteuerter schriftl. Kommunikation wie die tabula (Schwarzes Brett) bestimmt – der Hof und seine Ordnungen dagegen blieben geprägt von Mündlichkeit und Geheimhaltung. Der singuläre Akt des Anschlagens von wissenschaftl. Thesen (wie bei Martin Luthers Anschlag an der Schloß- und Universitätskirche zu Wittenberg 1517) ging an den kathol. Universitäten in Süddtl. und Österreich über in ein buchdrucker. Vervielfältigen von flugblattähnl., stark bildbetonten Thesenblättern.

1450-1550

Die frühen gedruckten Flugblätter verleugnen nicht ihre Herkunft aus der Handschriftenproduktion. Die Illustration findet sich noch häufig in der linken oberen Ecke des Blattes als funktionale Nachfolgerin der illuminierten Initiale. Techn. ist sie vom Holzschnitt mit seinen relativ groben Formen bestimmt. Erste Höhepunkte v. a. der Flugschriftenproduktion sind die Reformation (Blickle 1984, S. 128-133, 142-149) und in engem Zusammenhang damit der Bauernkrieg. Die herrschaftskrit. Programmschrift der »Zwölf Artikel« vom März 1525 erschien innerhalb von zwei Monaten in über 20 Drucken überall im Reich (Blickle 1975, S. 89-91). In diesem Kampf der Bauern für ihr gutes altes Recht konnte der Herrscher als Tyran zu ihrem Feind werden (1526 mit Text von Hans Sachs bei Harms 1983, Nr. 13; 1617 mit anderem Text bei Harms 1980-97, Bd. 4, Nr. 51).

1550-1650

Die jetzt sehr viel mehr auch Kupferstich und Radierung nutzende illustrierte Bildpublizistik erreicht in diesem Jh. ihren Höhepunkt. Mit der Konfessionalisierung und dem Dreißigjährigen Krieg (viele Flugblätter zu allen Aspekten des Krieges bei Bussmann/Schilling 1998, 1648; vgl. auch zu einer themat. Sammlung von Flugschriften Pfeffer 1993) bleiben Religions- und Machtpolitik Schwerpunkte einer Darstellung von Fs. und Hof, die mit Wort und Bild absichtsvoll bestimmte Wertungen übermitteln will. Der Hof kann heilsgeschichtl. gedeutet (dazu allg. Tschopp 1991) statt einer Kirche zum Ort des ersten Abendmahls in beiderlei Gestalt werden und die Taufe Jesu wird bildl. in das eigene Land vor die Residenzstadt Wittenberg verlegt (Abb. 284; Harms 1983, Nr. 9). Im Jubiläumsjahr 1617 werden in Kursachsen die gemeinsame Verantwortung und gegenseitige Legitimierung von weltl. und geistl. Obrigkeit deutlich, wenn sich Geschichte und Gegenwart im Bild verschränken (Abb. 285; Harms 1983, Nr. 45-46; Kastner 1982, S. 261-277) und im Jubiläumsjahr 1630 zeigt das Bild die Überreichung der »Confessio Augustana« an Ks. Karl V. als eine Handlung höchst selbstbewußter Fs.en (Harms 1980-97, Bd. 2, Nr. 216). 1717 schließl. wird Luther nicht mehr im Land der wieder kathol. gewordenen Wettiner vergegenwärtigt, sondern bildl. in einen Salon am Wolfenbütteler Hof geholt; Harms 1983, Nr. 8, Nr. 9, Nr. 49).

Burgen oder Schlösser blieben natürl. der Ort von großen Staatsaktionen, und so zeigt ein zeitungshaftes Blatt den Friedenskongreß 1650 im Rittersaal der Nürnberger Kaiserburg. Mit dem vertrauten Bild einer Burg (allerdings mit Halbmond und Minaretten) läßt sich der größte Feind des Reiches, der Dürck, in die eigene Vorstellungswelt einbinden; Harms 1983, Nr. 84). Doch die Welt wird gerne auch verrätselt, etwa wenn herald. Tiere die eigtl. gemeinten Herrscher vertreten. Die Botschaft wird oft in der Weise im Bild vergegenwärtigt, daß aus dem Leben am Hofe gewählt wird, was Aufmerksamkeit und Neugier des Lesers und des Betrachters zu wecken verspricht: Zeremonielle Handlungen aller Art, allen voran Kaiserwahl und Königskrönungen, Hochzeiten, Geburten, Aufbahrungen und Begräbnisse (bis hin zur Apotheose), aber auch Königsmord (Heinrich IV. 1610) und Hinrichtungen (Maria Stuart 1587 und Karl I. 1649). Die bildl. Darstellung des Alltags am Hofe mit Koch, Küche und Gesinde kann ebenso wie das anscheinend permanente Fest von Tafel, Tanz; Harms 1983, Nr. 100) und Jagd phantasievoll in eine vom Leser oder Betrachter spannend aufzulösende Beziehung zur Botschaft des Textes gesetzt werden. Gerade die Darstellung des höf. Fests rückte aber auch als Gegenstand deskriptiv angelegten Herrscherlobs in die Nähe einerseits der im 17. Jh. aufkommenden Zeitungen, andererseits der gesteuerten medialen Repräsentation von Repräsentation (diskutiert bei Bauer, S. 50-52).

Die Vorstellung vom Verlauf der Geschichte bleibt traditional bestimmt. Die Lehre von den vier Monarchien aus dem Buch Daniel trägt weiter (Harms 1980-97, Bd. 2, Nr. 297). Individuelles Handeln von Herrschern wird, führt es zum Erfolg, dem Wirken der göttl. providentia zugeschrieben, scheitert es aber, dann liegt das am schädl. Einfluß des Teufels oder schlechter Berater (Harms 1980-97; Bd. 2, Nr. 141 und Nr. 182. Fürstenspiegel aus dem hohen MA behalten ihre zeitlose Aktualität und werden auch in dem öffentl. wirksamen Medium des Flugblatts neu vergegenwärtigt (Harms 1980-97, Bd. 1, Nr. 63-64). Die Legitimität monarch. Alleinherrschaft ist (auch wg. der Zensur) eine Konstante – bis auf den Sonderfall der Eidgenossenschaft, wo der vergemeinschaftende Rütlischwur auch durch Flugblätter zum nationalen Gründungsmythos wird (Gamboni/Germann 1991, Nr. 53 und Nr. 54; Harms 1980-97, Bd. 7, Nr. 2-3).

→ vgl. auch Abb.133

Quellen

Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Harms, erschienen Bd. 1-4 und 7, München, dann Tübingen 1980-97 (ausführl. kommentierende Erschließung der Sammlungen in Wolfenbüttel, Darmstadt und Zürich mit umfangr. Registern). – Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Glaubenskämpfe der Reformation, 1983. – The German Political Broadsheet 1600-1700, hg. von John Roger Paas, erschienen Bd. 1-7: 1600-1648, Wiesbaden 1985-2002 (ohne Kommentare und noch ohne Register).

1648. Krieg und Frieden in Europa (Ausstellungskatalog), hg. von Klaus Bussmann und Heinz Schilling, Münster 1998, 3 Bde. – Bauer, Volker: Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich im 17. und 18. Jahrhundert. Überlegungen zur Mediengeschichte des Fürstenhofs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003) S. 29-68. – Blickle, Peter: Die Revolution von 1525, München 1975. - Blickle, Peter: Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1984. – Harms, Wolfgang: Einleitung, in: Deutsche Illustrierte Flugblätter, hg. von Wolfgang Harms, Bd. 1, Tübingen 1985, S. VII-XXX (grundlegend). – Kastner, Ruth: Geistlicher Rauffhandel. Form und Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617 in ihrem historischen und publizistischen Kontext, Frankfurt 1982. – Pfeffer, Maria: Flugschriften zum Dreißigjährigen Krieg. Aus der Häberlin-Sammlung der Thurn- und Taxisschen Hofbibliothek, Frankfurt 1993. – Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990 (grundlegend). – Schwitalla, Johannes: Flugschrift, Tübingen 1999. – Tschopp, Silvia Serena: Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635, Frankfurt/Main 1991. – Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts (Ausstellungskatalog), hg. von Dario Gamboni und Georg Germann, Bern 1991.